Politische Umbrüche fanden in den beiden letzten Jahrhunderten in Deutschland im Durchschnitt alle zwanzig, dreißig Jahre statt. Mit einer solchen Pauschalstatistik ist freilich nichts sicher zu orakeln, und glücklicherweise erfolgten diese Neuorientierungen nur selten revolutionär, sondern zumeist als tiefgreifende Reform oder als kultureller Wandel.
Die heroisierte friedliche Revolution in der DDR, eher die Implosion des sowjetischen Machtbereichs, fand mit der Restauration bundesrepublikanischer Zustände im Beitrittsgebiet längst ihren Abschluß. Eine geradezu festtagslyrische Begeisterung ist dort mittlerweile prosaischem Mißmut gewichen, um mal den inflationären Begriff Depression zu vermeiden.
Wenn Deutschland derzeit auf fragile Weise wirtschaftlich zu prosperieren scheint, ist das allein kein Stabilitätsindikator, zumal der Aufschwung nur dazu führte, daß zehn Prozent der Bevölkerung zwei Drittel des gesamten Vermögens besitzen, zwei Drittel der Einwohner aber über kein oder nur ein geringes Vermögen verfügen.
Erforderliche Daueralimentierung
Neben mangelnder kultureller Teilhabe und wachsender Kinderarmut führt dies dazu, daß eine wachsenden Zahl von Armen ihre Versorgungsbedürfnisse über den qualifizierten Gebrauch der wertvollen Grundrechte stellt.
Der liberale Sozialstaat verkam im Ergebnis dessen zu einer Dialyse-Gesellschaft, in der etwa die Hälfte der Wahlberechtigten Transferleistungen bezieht, also aufhörte, im klassischen Sinne eigenverantwortlicher Bürger zu sein. 1990 war das nicht einmal jeder Zehnte. Die erforderlichen Daueralimentierungen machen mittlerweile 60 Prozent der Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden aus.
Echte Leistungsträger fehlen hingegen zunehmend, beispielsweise jährlich 8.000 Ärzte und bis zum Jahr 2020 220.000 Ingenieure und 380.000 Mathematiker, Naturwissenschaftler und Informatiker. Die Krankenhäuser stellen notgedrungen rumänische und bulgarische Ärzte ein, was nach EU-Recht problemlos ist, in deren Heimatländern aber die medizinische Versorgung weiter verschlechtert. Die Wirtschaft umwirbt ausländische Ingenieure, und Wirtschaftsminister Brüderle erwog dafür bereits Begrüßungsgelder.
Anforderungen stetig gesenkt
Dem steht entgegen, daß in Deutschland bald über die Hälfte der Schüler ein schlau berechnetes Abitur ausgedruckt bekommt, neben den Begabten also auch Hinz und Kunz. Davon gehen nur etwa 75 Prozent an die Hochschulen und Universitäten, ein Viertel von ihnen bricht schnell „überlastet“ ab, und nicht wenige lassen sich im Lesen und Schreiben fachmännisch helfen und beraten. Nur 32 Prozent schließen ein ingenieur- oder naturwissenschaftliches Fach ab, dafür gibt es eine Menge smarter BWLer und VWLer sowie alle Sorten Medien-, Kommunikations- und Designspezialisten, die euphorisiert ihre Bachelor-Hüte in die Höhe werfen.
Solange der Schulabschluß auf Gesetz noch nicht garantiert ist, verlassen jährlich rund 65.000 Schüler die allgemeinen Schulen ohne Abschluß, und jeder Sechste scheitert in der Berufsausbildung, obwohl die Anforderungen dafür stetig gesenkt wurden.
Vergegenwärtigt man sich außerdem, daß über ein Viertel der Bevölkerung bereits sechzig Jahre und älter ist und 47 Prozent der Deutschen sich bei mindestens vier Ärzten in Behandlung befinden, die Krankenhausfirmen also profitabel zu Lasten der Krankenkassen arbeiten können, fragt man sich, wie dieses Land zu erfrischen wäre.