Sechzig Prozent aller Lebensmittel, grellbunt beworben in den überbordenden Endlosregalen der Supermärkte, säckeweise in Backtheken geschüttet und an Fleischständen kunstdarmprall gestapelt, können in Deutschland gar nicht abverkauft und konsumiert werden, weil sie einfach von vornherein überschüssig sind. Trotz oder wegen der allgemeinen Überfressenheit.
Der Handel läßt diese Ware täglich und noch schick verpackt zur Vernichtung karren. Die Lebensmittel-Discounter nehmen das in Kauf, weil die Auslagen nun mal voll sein müssen. Das Auge ißt eben mit und will das Schlaraffenland sehen.
Da aber selbst Vernichtung Verwertung sein muß, verdient daran ein neuer Industriezweig. „Food-Recycler“ wie die Firma ReFood sind darauf spezialisiert, den Überhang an Nahrungsmitteln in Fäulnisreaktoren auf Hi-Tech-Basis zu Biogas vergammeln zu lassen, das verstromt werden oder Wärme erzeugen kann. Das nennt sich dann ökologische Energiegewinnung aus nachwachsenden Rohstoffen und hat in Deutschland einen sehr guten Klang.
Gesellschaft sollte auf Regionalisierung setzen
Mehr braucht man nicht wissen über das Wesen eines auf Wachstum und quantitatives Übermaß ausgerichteten Wirtschaftssystems, das nichts mehr fürchtet als den „tendenziellen Fall der Profitrate“ und daher immer neue, also auch künstliche und überflüssige Bedürfnisse schaffen beziehungsweise suggerieren muß.
Daß über die Hälfte der agrarindustriell hergestellten Lebensmittel geschreddert und kompostiert oder zu Methan gefault werden, zeigt, wieviel natürlicher und ethischer Schaden durch Großflächenwirtschaft, Monokultur und horrende Tierquälerei vermeidbar wäre, wenn die Gesellschaft entgegen ihrer lobbyistisch beschworenen Marktgesetze auf Regionalisierung und biologische Landwirtschaft setzen würde. Und damit gleichzeitig auf Verantwortung und Geschmack! Dies zu wünschen wird selbst von vermeintlich Konservativen belächelt und bedeutet heutzutage, Philemon und Baucis nachzuweinen und ein abseitiger Romantiker zu sein.
Daß in Massentierhaltung und von modernem Großgrundbesitz hergestellte Lebensmittel zu sechzig Prozent in Gammelkraftwerken landen, entspricht einer verwandten marktwirtschaftlichen Logik, nach der etwa Krankenhäuser, um sich zu rechnen, nur dann profitabel wirtschaften, wenn sie möglichst viele Kranke als abrechenbare Kunden möglichst lange und mit maximalen Therapieleistungen behandeln und bei sich behalten können.
Deutschland ist wirtschaftliches Schwergewicht mit viel ungesundem Fett
Der Gesunde stört das System der Abrechnungen und Kassen nur dann nicht, wenn er für die Gesundheits- und Pharmaindustrie kräftig einzahlt. Weil der Kranke wenigen viel Gewinn auf Kosten aller verspricht, müssen ja Krankenhäuser heute auch smarte Firmen sein, während die guten alten staatliche Kliniken, denen nur das gemeine Gut der Volksgesundheit anstatt privater Profit Anliegen war, hoffnungslos antiquiert erscheinen.
Weil das alles angeblich betriebs- und volkswirtschaftlich nur so laufen kann und weil es – typisch ancien regime! – heißt, das ginge nicht anders, ist Deutschland ja unter anderem ein wirtschaftliches Schwergewicht, aber eines mit viel ungesundem Fett und politischer Altersdiabetes. Bleibt der Wunsch, es möge irgendwann anders gehen, und zwar plötzlich und unvermutet genau dann, wenn ein sakrosanktes System in der Wahrnehmung einer kritischen Menge von Bürgern seine Impotenz sichtlich erweist und der Kaiser wieder mal nackt da steht.