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Alte Schule

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Ich fuhr kürzlich an meinen Prignitzer Heimatort, um mich von meiner ehemaligen Grundschullehrerin zu verabschieden, die mir von 1970 bis 1974 das Lesen und Schreiben, das Rechnen und die Heimatkunde in einer Weise vermittelte, wie ich es dann für mein Leben nutzen und entwickeln konnte, ganz abgesehen davon, daß sie mir darüber hinaus zweierlei Entscheidendes als Wert nahebrachte – Natur und Arbeit. Vergessenes Kapitel einer ganz anderen Bildungsgeschichte in einer ganz anderen Welt.

Mitten in der DDR, in einem Unrechtsstaat, wie heute billigerweise gerade Unbetroffene zu wissen meinen, vermittelte mir diese Frau alles, was moderne Pädagogik neuerdings als „Schlüsselkompetenzen“ zu bezeichnen versucht, über die offenbar nur noch eine Minderheit verfügt und derer man nicht mehr zwingend bedarf. 

Wir waren über dreißig Kinder in der Dorfschulklasse und wurden mit natürlicher Autorität durch einen systematisch verbindlichen Lehrplan geführt, der heute als überfordernd erschiene, und bekamen vom ersten Tag an Zensuren, die neuerer Erziehungswissenschaft als diskriminierend gelten würden. Wir standen morgens vor der Lehrerin, sangen ein Morgenlied und zogen dann ohne jeden Schwund und Verlust Unterricht durch. Nachmittags trafen wir uns mit ihr zum Basteln von Vogelhäusern oder zu Arbeitseinsätzen in der Genossenschaft oder sammelten im Herbst Eicheln und Kastanien für die Winterfütterung des Wildes. 

So streng wie verbindlich wie herzensgut

Ich betrachte das damals erworbene Vermögen, diese qualifizierte Alphabetisierung und den Arbeitsethos, sehr bewußt als die wertvolle Grundlage aller Fähigkeiten, die ich später erwerben konnte. Meine Lehrerin Lisa P., der ich in persona den ersten Zugang zur Bildung verdanke, damals so streng wie verbindlich wie herzensgut, stand jetzt vor ihrem einundachtzigsten Geburtstag und starb dieser Tage zu Hause an Krebs, betreut mit intensivmedizinischen Maßnahmen, nachdem sie von Krankenhaus als unheilbar entlassen wurde. 

Wie gesagt, ich sah meine Verpflichtung darin, mich von ihr zu verabschieden, aber mir grauste ehrlich gesagt davor. Ja, ich hatte mich wegducken wollen und versuchte das mit dem feigen Gedanken zu legitimieren, daß ich sie doch einfach in guter, ja in bessere Erinnerung behalten könnte, wenn ich sie nun gerade nicht sterbend sah. Aber statt dessen stärkte ich mich morgens eigens mit einem langen Lauf die alten Kindheitswege entlang und brach dann allein zu ihrer mir noch vertrauten kleinen Wohnung auf. Ein schwieriger Gang.

Sie hatte als Landarbeiterkind in der Sowjetischen Besatzungszone noch vor Gründung der DDR Abitur gemacht, als das für Mädchen, zumal für solche sogenannter einfacher Herkunft, kaum üblich war. Sie war dazu mit einem alten Rad vom Dorf in die Stadt gefahren, weil es Schulbusse noch nicht gab. Sie wurde Grundschullehrerin, heiratete einen Obstplantagenbesitzer, der nach seiner Enteignung nicht vom Fusel loskam, sie trennte sich daher und ließ es dann mit den Männern, dafür arbeitete sie Jahrzehnte und bis nach der Rente durch.

Frieden, Lebensweisheit, Würde, innere Schönheit

Ich konnte mir keine bessere Lehrerin vorstellen, obwohl sie in ihrer puritanischen Sprödigkeit alles entbehrte, was gegenwärtig zur süßlichen Grundschulkultur gehört. Um so mehr galt uns jedoch ihr Lob, wenn wir es mal bekamen, um so mehr erfrischten uns ihre Ermunterungen. Ihre Herzlichkeit war echt und deswegen nicht inflationär. Aber würde sie heute mit ihren Methoden in einer Grundschule arbeiten, dürfte sie sich der Amtsbeschwerden und Disziplinarverfahren gewiß sein. Hatten wir geklaut oder gelogen oder hatten wir eine Übung nach mehrfacher Wiederholung nicht begriffen, dann setzte es nämlich durchaus was. Darin folgte sie ganz den Maßstäben, mit denen sie selbst auf einem ostelbischen Gutsdorf aufgewachsen war. 

Ich war auf den Anblick des unmittelbaren Todes als etwas Elendes und Schockierendes eingerichtet, ich hatte mich dazu gerüstet, gerade weil ich der Frau das letzte Mal als resoluter Siebzigerin begegnet war. Und ich traf eine Sterbende, die klar sah und die, gezeichnet und abgezehrt von der Krankheit, beinahe, ja, jünger wirkte, fast etwas mädchenhaft, vielleicht wirklich unbeschwert. Das Gesicht bleich, aber eben gar keine Spur von Leid, Elend, Kummer oder gar Angst darin, sondern nur Frieden, Lebensweisheit, Würde, innere Schönheit, wie verhangen von einem ätherisch anmutenden Schleier. In unserem Gespräch spielte der Tod gar keine Rolle, weil er wie selbstverständlich sowieso allzu gegenwärtig war. 

Habe meine Pflicht getan, und das gern

Die Dame erzählte von ihrer Kindheit auf einem Büdnerhof in Kleinow-Ausbau, von ihrem Abitur 1948, von ihrer ersten Lehrerstelle. Ich bedankte mich noch einmal für alles; aber ich blieb konsequent im Präsens, wenn es um sie und um mich ging. Der Dank wurde dezent abgewehrt. Preußische Bescheidenheit: Habe meine Pflicht getan, und das gern. Der eine nimmt aus dem Unterricht etwas mit, der andere weniger, ich hätte eben Glück gehabt. So in der Art. Danach Geplauder, so als wäre nichts weiter, während allerlei installierte Apparate tickten. 

Wir hatten uns wohl an die zehn Jahre nicht gesehen, und es würde an ein Wunder grenzen, wenn wir uns je wieder im Leben begegnen könnten. Insofern wußte ich überhaupt nicht, wie ich mich verabschieden sollte. Und sie baute deswegen die Brücke: Sie wäre ein bißchen müde, wolle ein wenig schlafen, ich könne ihr ja noch etwas Tee eingießen und dann ruhig gehen. Sie hätte sich sehr gefreut. Es wäre jetzt gut. 

Ich bin in meinem Leben wohl noch nie so beeindruckt aus einem Zimmer gegangen und schloß leise, sehr leise und aufmerksam die Tür. Und ich war überhaupt nicht erlöst, da raus zu sein. Eigentlich hatte ich sogar noch bleiben wollen. Aber es war jetzt ja gut so, hatte die alte Dame gesagt.

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