Vor einigen Tagen fühlte ich mich bei einem Halt an einer Tankstelle beim Betrachten gewisser schwitzender, unförmiger Zeitgenossen, die mit kurzer Hose, unbeschreibbaren „Trekking-Sandalen“, Tennissocken und Unterhemden oder T-Shirts – manchmal begleitet von ähnlich „elegant“ gekleideten Damen in ihren unvermeidlichen „Leggins“ – vorfuhren, lebhaft an eine Stelle aus Botho Strauß’ Aphorismensammlung „Die Fehler des Kopisten“ erinnert. Strauß schreibt dort an einer Stelle:
„Es ist nicht ‚falsche Ernährung‘ der einzige Grund für die Unförmigkeit meines Landsmanns an der Tankstelle, der seine Wampe nur mit einem grobmaschigen Unterhemd bedeckt und über seine kurze Hose wölbt … Daß man jedoch nur Übergewicht und niemals stattliche Leibesfülle zu sehen bekommt, wird von der Art der Bekleidung entschieden.“
Nach Strauß beginnt das, was er das „Unheimliche“ nennt, dann, „wenn man jeden Sinn für öffentliches Angezogensein verloren hat, wenn also unsere homewearing people die Straße zu einer scheinbar gemeinsamen Wohn-Tele-Stube machen, während in Wahrheit jeder nur seine seine eigene Wohnstube hinausträgt unter Mißachtung der Öffentlichkeit“.
Konventionen nur noch im Berufsleben akzeptiert
Strauß ist der Meinung, daß die Grenzauflösung zwischen Öffentlichkeit und Intimität nur „tiefer ins Unheimliche führen“ könne. Möglicherweise hatte er hier auch den US-Soziologen Richard Sennett vor Augen, der der „Tyrannei der Intimität“ bzw. dem „Ende und Verfall des öffentlichen Lebens“ ein ganzes Buch gewidmet hat (dt. Ausgabe 1983). Sennett kommt unter anderem zu dem Schluß, daß in dem Maße, in dem Sitte, Regel und Gestik abgebaut werden und die Menschen einander näher kommen, ihre Beziehungen zueinander „ungeselliger, schmerzhafter, destruktiver“ werden.
In der Tat können wir feststellen, daß durch die Mißachtung des öffentlichen Raums, der heute auch durch moderne Kommunikationstechnik immer weiter voranschreitet – nicht wenige nutzen den öffentlichen Raum als öffentliche Telefonzelle –, die Aggressionen und Zumutungen im täglichen Umgang signifikant gestiegen sind. (Einige Beispiele hierfür habe ich in meinen zurückliegenden Blogs angesprochen.) Konventionen und Regeln werden heute nur noch im Berufsleben akzeptiert, weil deren Nichteinhaltung sanktioniert wird. Ansonsten ist weithin Anarchie festzustellen.
Nichts ist unmöglich
Die Erosion von Regeln und Umgangsformen, die ein Mindestmaß an Berechenbarkeit und Verbindlichkeit im Miteinander garantiert haben, hat also keinesfalls zu mehr „Nähe“, zu mehr Gleichheit „unter den Menschen“ oder zu einer „menschenfreundlicheren Gesellschaft“ geführt, sondern dazu, daß so mancher meint, daß „nichts unmöglich ist“. Der weitgehende Wegfall des Unterschieds zwischen Haus- und Straßenbekleidung ist hier nur ein, wenn auch ein besonders augenfälliges Beispiel, ein anderes sind die neuen Medien:
„Manchmal, wenn ich mich durch diese Weblogs klicke“, so Sennett in einem Interview mit dem Hörfunksender Ö1, „wo Menschen alle Aspekte ihres intimen Lebens online veröffentlichen, kommt es mir vor, als würden sie Müll in einen Abfalleimer, in dem Fall in ihren Computer, tippen.“
Spätestens hier zeigt sich, daß Konventionen auch dazu da sind, den Menschen vor sich selbst zu schützen. Fällt deren normative Funktion, verlieren viele die Orientierung. Genau dies aber zieht unter anderem Unsicherheit und Aggression nach sich, was einer klaren Widerlegung der „Ideologie der Intimität“, wie Sennett es genannt hat, gleichkommt. Die menschlichen Selbstoffenbarungen, die diese Ideologie im täglichen Miteinander mit sich bringt, kann auch als Beleg für die Realitätsnähe des pessimistischen konservativen Menschenbildes gewertet werden, das seit jeher auf der Einhegung des „Menschlichen, Allzumenschlichen“ fußt.
Etwas weniger theoretisch ausgedrückt und um das oben Gesagte noch einmal aufzunehmen, könnte man sagen: Kaum ein Mensch ist mir so nahe, daß ich wissen möchte, wie er sich in seinen eigenen vier Wänden kleidet oder wo sich sein „Bussi Schatzi“ gerade befindet.