Ein Blick auf die Prophezeiungen der politischen Beobachter aus dem Sommer des Jahres 1939 offenbart ein beeindruckendes Gemisch aus sinnlosem Gerede und Volltreffern. Wobei ja auch in scheinbar sinnlosen oder schlechtinformierten Meinungsäußerungen immer noch die Absicht stecken kann, eine bestimmte Stimmung zu schaffen.
Nehmen wir zum Beispiel Leo Trotzki. Im Juni 1939 machte er sich daran, die kommunistische Gemeinde auf den kommenden Abschluß eines deutsch-sowjetischen Pakts einzustimmen und schrieb dazu einen Artikel. Stalin habe Hitler seit 1933 ohnehin immer die ausgestreckte Hand entgegengehalten. Hitler hätte aber immer abgelehnt und sich statt dessen dem Westen als Antikommunist angedient. Jetzt nehme dieses Thema keiner mehr ernst. Stalin habe die Kommunisten in der UdSSR liquidiert und fürchte jetzt den Krieg, vor der Weltrevolution habe im Westen deshalb derzeit niemand mehr Angst. Hitler dagegen habe im Frühjahr 1939 endgültig ohne einen Schuß abzugeben die „nationale Basis“ für eine angeblich geplante Weltpolitik geschaffen, also die westliche Kommunistenfurcht maximal ausgebeutet.
Trotzki spekulierte
„Wenn er nichtsdestoweniger dem Kreml entgegenkommt, dann offensichtlich deshalb, weil er die UdSSR fürchtet. Mit ihrer Bevölkerung von 170 Millionen, der Unerschöpflichkeit der natürlichen Reichtümer, den unbestrittenen Industrialisierungserfolgen, dem Ausbau der Verkehrswege, wird die UdSSR — so kombiniert Hitler — Polen, Rumänien und die Baltenstaaten schnell an sich reißen und mit all ihrer Masse gerade in dem Moment an die Grenzen Deutschlands vorrücken, wenn das Dritte Reich in den Kampf um die Neuverteilung der Welt einbezogen sein wird. Um England und Frankreich ihrer Kolonien zu berauben, muß man sich zunächst den eigenen Rücken freihalten, und so spielt Hitler mit dem Gedanken an einen Präventivkrieg gegen die UdSSR.“
Trotzki spekulierte hierüber und über vieles andere. Manchmal lag er richtig, wie bei Hitlers Furcht vor der UdSSR, Stalins Expansionsabsichten für den Kriegsfall und Hitlers Gedanken an einen Präventivkrieg, die allerdings erst später entwickelt wurden. Anderes war grotesk falsch, wie Stalins angebliche Furcht vor einem Krieg. Was die letzte Schlußfolgerung betraf, so kam dem einstigen Kriegskommissar und Mitschöpfer der Roten Armee ein Anfall von Bedenken über den Sinn des Ganzen:
„Die Moskauer Oligarchie wird in jedem Fall den Krieg nicht überleben, den sie aus gutem Grund fürchtet. Der Sturz Stalins wird Hitler jedoch nicht retten, der mit der Unfehlbarkeit eines Schlafwandlers in die größten historischen Katastrophen tappt. Ob dabei die anderen Teilnehmer des blutigen Spieles gewinnen, ist eine andere Frage.“
Ein blutiges Spiel, in der Tat. Trotzki hatte es selbst mitgespielt und suchte auch 1939 keinen Weg, um es zu beenden.