„Goethe ist ein Europäer, Schiller ein Deutscher“, meinte ein Franzose in den 1920er Jahren. Eine solche Verortung stellt zwar gegenwärtig einen strukturellen Nachteil für Friedrich Schillers Werk dar, jedoch einen Vorteil für das Johann Wolfgang Goethes. In Schillers 250. Geburtsjahr, der im November begangen wird, steht der Marbacher im Schatten des Frankfurters.
Die Verherrlichung Schillers im nationalbewegten Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und seine Überhöhung im Nationalsozialismus trugen dazu bei, daß nach dem Zweiten Weltkrieg Goethe an die Stelle Schillers als Nationaldichter trat. Die durch politische Unbedenklichkeit beflügelte Goetheverehrung führte allerdings wiederum dazu, daß man am Goethedenkmal nicht kratzen darf, ohne heftigste Empörung auf sich zu ziehen.
„Man darf Goethe nicht nicht mögen“, faßt Heidi-Melanie Maier die mißliche Lage für Goethekritiker zusammen. Um so bemerkenswerter sind einige Schriften, die in den vergangenen Jahren zur Goethekritik erschienen sind. Kritik gibt es im Grunde, seit Goethe schrieb. James Joyce nannte Goethe einen „Großmeister der Platitüde“. Johann Gottfried Herder urteilte: „Goethes Briefe sind kaum der Tinte wert“. „Goethe ist an nichts zu fassen und ein Egoist in ungewöhnlichem Grade“, empörte sich Schiller. Heinrich Heine beschimpfte Goethe als „Aristokraten-Knecht“, und Gottfried August Bürger wünschte ihn ganz einfach zum Kuckuck.
Gegen blinde Verehrung
Die gegenwärtige Goethekritik reicht von der „Ich-hasse-Goethe-Homepage“ eines Pastors, die sogar von militanten Goethe-Anhängern einmal zerstört („gehackt“) wurde, über das polemische Essay „Das Genie als Speichellecker“ des Ungarn Stephen Vizinczey (2005) bis zur Darstellung von „Ludwig Börnes Goethe-Kritik“ von Christoph Weiß (2005).
Erfrischend volkstümlich setzt sich der Dichter Günter B. Merkel in seinem Buch „Goethe ungeschminkt“ mit dem Dichterfürsten auseinander. Merkel hat vor wenigen Monaten – passend zum Schillerjahr – „Vernichtendes zu Werk und Charakter eines Gecken“ veröffentlicht, wie es im Untertitel heißt. Der Versschmied, den die Tageszeitung „Rheinpfalz“ als „Goethes späten Gegenspieler“ bezeichnet, hat „eine geballte Ladung kritischer Stimmen, Gegengedichte und Schmähgedichte zum Werk und Charakter des Selbst-Darstellers und vermeintlich größten deutschen Dichters aller Zeiten“ zusammengetragen.
Goethes menschliche Schwächen
Merkel prangert zum einen die blinde Goethe-Verehrung an und verschont dabei selbst hochrangige und mit Steuergeldern geförderte Einrichtungen nicht: „Irgendwann nennt man noch Schutt / Nach Goethe, wie das Institut“ (aus dem Gedicht „Hirnverbrannter GOETHE-Kult“). Zum anderen sind selbstverständlich Goethes menschliche Schwächen wie Wollust, Ichbezogenheit und Selbstverliebtheit Ziel seines Spotts: „Der BeiSchlaf – dies vermuten wir – / War GOETHEs LebensElixier!“ (aus dem Gedicht „ZwischenLösung“). „Daß manche mit bekanntem Namen / Sich sogar das Leben nahmen – Tief enttäuscht vom feinen Herrn – / Hört die NachWelt nicht so gern“ (aus dem Gedicht „Der feine Herr von GOETHE“). Nicht zuletzt bemängelt Merkel Goethes handwerkliches Können: „Schlampig reimt der ‚große Meister‘, / Ja, es geht wohl nimmer dreister!“ (aus dem Gedicht „Divan-Poesie“). Goethe, der ein Reimlexikon benötigte, reimt „Griechen“ auf „besiegen“ oder „bestrafen“ auf „fragen“. Dieser „Reimpfusch“ ist zu viel für Merkel, den Meister des reinen Reims.
Goethe schmähte den Literaturkritiker Garlieb Helwig Merkel (1769 bis 1850) als „Ferkel“. Für Günter B. Merkel hätte er sicher noch deutlichere Worte gefunden.