Ja, sicher, Sportveranstaltungen sind Brot und Spiele, trotzdem habe ich mir gestern Abend den Diskuswettbewerb der Männer angesehen und mich diebisch gefreut, daß Robert Harting mit seinem letzten Wurf Weltmeister geworden ist. Erst am Vortag hatte ich überhaupt von Harting erfahren. Der mediale Aufruhr, den er mit dem Wunsch ausgelöst hatte, sein Diskus möge den protestierenden Doping-Opfern und Anti-Doping-Aktivisten ins Gesicht springen, war unüberhörbar. Der Satz war weder intelligent noch besonders witzig und trotzdem eine Wohltat, weil er einen typischen Betroffenheitsdiskurs souverän vom Tisch fegte.
Die Leichtathletik-Funktionäre waren sogleich mit den üblichen Betroffenheitsritualen zur Stelle, doch da hatte Harting sie bereits als die Repräsentanten parasitärer Strukturen demaskiert, die an den Leistungsträgern schmarotzen und gleichzeitig nichts anderes zustande bringen, als deren Leistungen zu behindern. „Leute wie Präsident Clemens Prokop und Generalsekretär Frank Hensel brauchste eigentlich nicht. Die sind seit über fünf Jahren im Amt, passiert ist aber nichts, da arbeitet wohl keiner.“
Ein Antityp also, blond, blauäuig, zwei Meter groß, ein Kraftpaket wie von Breker gemeißelt, der sein Hemd vor der Brust zerreißt, mit der Deutschlandfahne rumläuft, nicht schwul ist, nicht mal eine versteckte Weiblichkeit aus sich rauslassen muß. Der vor dem Wettkampf sein Hausrecht verkündet: „Ich werde meine Stadt verteidigen. Da will jemand kommen und hier Weltmeister werden“, und nach vollbrachtem Sieg triumphiert: „Ich bin absolut zufrieden, ich habe mein Stadion verteidigt.“
Groll auf Leistung und Selbstüberwindung
Vieles mag Pose und Provokation sein, um Aufmerksamkeit zu erreichen und den eigenen Marktwert zu steigern, aber der Ausgangspunkt, so scheint es, ist menschliche Loyalität. Harting steht zu seinem Trainer, der wegen angeblicher Doping-Verstrickungen zu DDR-Zeiten unter Beschuß steht. Instinktiv hat er begiffen, daß die Angriffe auf ihn mit allgemeineren Fehldispositionen der bundesdeutschen Gesellschaft zusammenhängen. Gegen die rebelliert er nun.
Mit der Beleidigung von DDR-Dopingopfern, hieß es, habe er die rote Linie überschritten. Nun geht es in Opfer-Diskursen nie ausschließlich um Moral und Gerechtigkeit – ohnehin zwei schwammige Begriffe. Stets werden auch finanzielle Zuwendungen und – was langfristig noch wichtiger ist – neue Herrschaftsrollen angestrebt. 20 Jahre nach der Wiedervereinigung wollen Aktivistengruppen bestimmen, welcher DDR-Trainer in seinem Beruf arbeiten darf und welcher nicht. Diese Gruppeninteressen finden deshalb so viel Resonanz, weil sie sowohl den Reflexen des innerdeutschen Kalten Krieges wie denen der sozialstaatlichen Neidgesellschaft entspricht, die ihren Groll auf Leistung und Selbstüberwindung auslebt.
Die DDR war in den meisten Bereichen fehlkonstruiert, aber im Sport herrschte ein brutalstmögliches Leistungsprinzip. Wer kein hartes Training absolvierte, dem half auch kein Doping, dieses bildete nur das Tüpfelchen auf dem I. Zu diesem Leistungsprinzip gehört auch, daß die DDR-Trainer die besten der Welt waren und sind, was außerhalb Deutschlands auch anerkannt und genutzt wird. Indem alle Erfolge auf den Gebrauch von Doping zurückgeführt werden, delegitimiert man die Leistung und den Leistungsbegriff als solchen und schreibt seiner aktuellen, selbstverschuldeten Erschlaffung einen höheren moralischen Wert zu. Ein Siegertyp wie Harting kann diese Heuchelei und Schwäche nur verachten.