In meiner Kindheit machten wir Anfang der siebziger Jahre Urlaub in der Lüneburger Heide. Wir spazierten zu einer gesprengten Elbbrücke. Unser Vater wies nach Osten und meinte: „Dort drüben geht Deutschland weiter.“ Ich bin mit dem Bewußtsein großgeworden, daß die Teilung ein anormaler, gewaltsamer Zustand war.
Ab 1983 besuchte ich jedes Jahr unsere kirchliche Partnergemeinde in der DDR und besah die Mauer in Berlin von östlicher Seite. Sollte hier unsere Geschichte enden? Für die deutsche Einheit zu kämpfen hätte das wichtigste politische Ziel sein müssen – dachte ich.
Doch begegneten uns Lehrer, Pfarrer, Journalisten, Professoren, die in scheinbar großer Mehrheit verkündeten: Das Zeitalter der Nationalstaaten sei vorbei, es sei ein Segen, daß Deutschland nicht mehr einen gefährlichen großen Block in der Mitte Europas bilde und den Frieden in Europa nicht mehr bedrohen könne.
Unbändige Freude brach sich Bahn
Beim Wehrdienst erklärte mir mein Kompaniechef im Spätsommer 1989, als wir über die Meldungen von Demonstrationen und Massenflucht aus der DDR sprachen, die Mauer stehe noch in den nächsten 50 Jahren. Viele hatten es sich in Westdeutschland behaglich im Schatten der Mauer eingerichtet, auf deren östlicher Seite 17 Millionen Deutsche im Spiel des Lebens einfach die Niete gezogen hatten.
Mit dieser politischen Windstille war es am 9. November 1989 vorbei. Die Straßen waren schwarz vor Menschen, als ich mit Freunden am 10. November in Berlin eintraf. Unbändige Freude brach sich Bahn. Mit der furchtbaren Mauer fiel eine tonnenschwere Last von uns ab. Der „Rückruf in die Geschichte“ (Karlheinz Weißmann) war da.
Für die erdrückende Mehrheit der Deutschen auf beiden Seiten der Mauer stellte sich nie die Frage der Einheit – sie hatten niemals aufgehört, sich selbstverständlich als eine Nation zu verstehen. Das war für Teile der Politischen Klasse, vor allem der Linken, empörend. Gerade das hatte man geglaubt, doch überwunden zu haben.
Die Wut bei westdeutschen Linksintellektuellen darüber, daß die Deutschen in der DDR vor 30 Jahren das von Gorbatschow angestoßene Tauwetter nutzten und die Mauer überrannten, dauert teilweise bis heute an: Ein Echo davon vernehmen wir, wenn aktuell die Rede ist von vermeintlicher „Rückständigkeit“ der Ostdeutschen, die die Frechheit besitzen, anders zu wählen als ihre aufgeklärten, kosmopolitischen Landsleute in Westdeutschland.
Wir feiern eigentlich einen doppelten Mauerfall: einerseits den Einsturz der mörderischen Grenze, mit der die kommunistische DDR ihre Bürger einsperrte, andererseits den Zusammenbruch der postnationalen, ahistorischen Illusion eines westeuropäischen Sonderweges. Das Wunderbare ist doch: Seit dem 9. November 1989 ist die Geschichte wieder offen.
JF 46/19