Was sind wir Journalisten doch für eine selbstgerechte Hammelherde. Zu diesem Ergebnis kommt, wer die Thesen von Hans Mathias Kepplinger nachvollzieht. Vergangene Woche stellte der Kommunikationswissenschaftler und Schüler der legendären Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann sein neuestes Buch vor, aus dem die JUNGE FREIHEIT einen Vorabdruck bringt.
Warum Hammelherde? Kepplinger gebraucht diesen Ausdruck nicht. Er geht jedoch der Frage nach, weshalb eigenartigerweise manche Personen ins Visier einer skandalisierenden Kampagne geraten und andere nicht. Jüngste Beispiele: Guttenberg, Kachelmann, Sarrazin. Nach Drucklegung kam als frischester Fall noch der inzwischen aus dem Amt geschiedene Bundespräsident Wulff hinzu.
Einige Meinungsführer, die zum Halali blasen
Kepplinger saß mit den altgedienten Journalisten Hugo Müller-Vogg (Ex-Herausgeber der FAZ, heute Bild) und Hans Werner Kilz (Ex-Chefredakteur von Spiegel und Süddeutscher Zeitung) auf dem Podium und reflektierte den Sturz von Wulff. Kilz bezeichnete es als merkwürdig, daß im Fall Wulff ein derart einheitlicher Block entstanden sei, während bei Guttenberg die Lager noch geteilt gewesen seien.
Kepplinger kommt aufgrund seiner empirischen Medienanalyse zum Ergebnis, daß häufig aus kleinen Mißständen große Skandale und aus großen Mißständen überhaupt keine Skandale gemacht würden. Es gebe einige Meinungsführer, die zum Halali bliesen, und alle stürmten hinterher. Einer der Gründe liege in der kollektiven Ausrichtung der Journalisten, vulgo im Hammelherde-Verhalten.
Menschen neigten allgemein aus einem Überlebenstrieb heraus dazu, sich Mehrheitstrends anzupassen, selbst wenn die Mehrheit falschliegt. „Im Journalismus verläuft der Prozeß wegen der starken Kollegenorientierung besonders schnell und effektiv. Ist die skandalträchtige Sichtweise etabliert, werden neue Fakten schemagerecht interpretiert oder ignoriert: Wer der Sichtweise widerspricht, hat keine andere Meinung, sondern verkennt die Realität.“
Wahre Mißstände werden kaum skandalisiert
Insofern braucht man ein eigenes Koordinatensystem, wenn man sich von der Hammelherde absondern will – was kritische Journalisten tun sollten. Im Fall Wulff hat die Mehrheit im Grundsatz recht: Dieser Politiker ist – spätestens im nachhinein seit seiner peinlichen Auswahl von Musikwünschen für den Großen Zapfenstreich anläßlich seines Abschieds – nicht tragbar.
Nur: Dies trifft auf die Mehrheit der Spitzenpolitiker zu. Sie haben sich vielleicht von „Amigos“ keine popeligen Urlaubsreisen finanzieren lassen, opfern dafür aber mit einer verantwortungslosen „Euro-Rettung“ Hunderte von Milliarden Euro des deutschen Steuerzahlers. Dieser Mißstand wird kaum skandalisiert – was Kepplingers Thesen bestätigt.
JF 11/12