Wir leben in außergewöhnlich schwierigen Zeiten. In solchen werden traditionell viele Leute zum Umdenken gezwungen. Selbst einige knallharte Ideologen sehen sich dazu genötigt, sich zwischen ihren bisherigen Lieblingsfeindbildern zu entscheiden – und einem von ihnen eine zumindest kurze Gnadenfrist zu erteilen.
Wohl unter dieser Prämisse hat Greenpeace in dieser Woche die Wiederinbetriebnahme von Steinkohlekraftwerken für die Stromversorgung als notwendig bezeichnet. „Es ist bitter, aber unumgänglich, daß bereits stillgelegte Kohlekraftwerke wieder ans Netz gehen“, sagte der Kampagnenleiter für Klima & Energie des Umweltverbands, Karsten Smid, am Montag gegenüber den Medien. Diese zumindest semi-pragmatische Einsicht seiner Organisation begründet der Diplom-Ingenieur für Umweltschutztechnik wie folgt: „Um sich aus der politisch verschuldeten Abhängigkeit von Putins Gaslieferungen zu befreien, müssen Steinkohlekraftwerke kurzzeitig in die Bresche springen“.
Gnadenerlaß mit Einschränkung
Damit war die Abkehr der Aktivisten vom Dogmatismus allerdings auch schon wieder am Ende. Das zeigt nicht zuletzt die klare Einschränkung, die Smid seinem Gnadenerlaß hinterherschickte: Um zu verhindern, daß daraus ein Rückschritt für den Klimaschutz werde, müßten die jetzt zwangsläufig entstehenden zusätzlichen Emissionen in den folgenden Jahren ausgeglichen werden, so der Greenpeace-Mann. Daß er glaubt, daß dies in nächster Zukunft möglich wäre, zeigt, daß die Weltuntergangspropheten offenbar doch größere Optimisten sind, als man bisher vermutet hätte.
Ansonsten halten die Umweltschützer aber in Krisenzeiten noch immer ihren ideologischen Kurs ein. Das Anfahren von Braunkohlekraftwerken lehnt Greenpeace weiterhin ab – und zum Thema längere AKW-Laufzeiten heißt es auf der offiziellen Internetseite der Organisation: „Atomausstieg am 31.12. und keinen Tag später“. Kompromißbereitschaft ist bei Ideologen eben meist doch nur der kleinstmögliche Brocken, den man bereit ist, dem politischen Gegner hinzuwerfen.
Böhmermann und das Apotheken-A
Es gibt freilich auch noch die echten Radikalen. Die wahren Überzeugungstäter, die sich auch von noch so großen Problemen für die Normalbevölkerung nicht aus ihrem politischen Trott bringen lassen. Besonders verbreitet ist diese dekadente Gesinnungstreue unter Medienschaffenden, die es sich auf Grund ihrer herausragend sicheren Position leisten können, die für sie nichtigen Schwierigkeiten ihrer Mitmenschen zu ignorieren und sich stur auf ihre ganz eigenen „Probleme“ zu konzentrieren. Der Entertainer Jan Böhmermann ist so einer. Der hat es sich aktuell zum Ziel gesetzt, für die Abschaffung des Apothekensymbols zu kämpfen.
Bei diesem, so habe er im Urlaub, durch einen Museumsbesuch und nach kurzer Recherche herausgefunden, handele es sich nämlich um ein „Nazizeichen“. In den Ferien einfach nur faul in der Sonne zu liegen und die Seele baumeln zu lassen, ist offensichtlich nichts für den blassen dünnen Jungen vom ZDF. Zu einer richtigen Tiefenrecherche fehlte dem politisch-komischen Journalisten dann in seiner Freizeit wohl irgendwie doch die Lust.
Eingeführt, um den Kranken zu dienen
Zwar stimmt es, wenn Böhmermann in seinem gemeinsamen Podcast Fest & Flauschig mit Olli Schulz sagt, daß das markante rote A an den deutschen Apotheken in der NS-Zeit entstanden ist, seine Entstehungsgeschichte ist allerdings etwas älter und komplexer. Von der erfährt man übrigens detailliert auch auf der Homepage des Deutschen Apotheken-Museums, in dem sich der Satiriker seinen Denkanstoß geholt haben will. Denn politisch hatte das Logo erst mal nicht viel mit dem Nationalsozialismus zu tun. Es wurde in den späten 1930er Jahren eingeführt, um die vielen unterschiedlichen Symbole zu ersetzen, die die Apotheken bis dato trugen.
Bestrebungen, ein solches gemeinsames Kennzeichen zu schaffen, gab es bereits seit den 1920er Jahren. Lange konnte man sich allerdings nicht auf ein solches einigen, so daß es für der Arzenei Bedürftige schwer war, Apotheken schon von weitem zu erkennen. Die Patienten mußten also oft weiterhin lange suchen, bis sie die von ihnen benötigten Medikamente irgendwo kaufen konnten.
Wer echte Probleme hat
Damals gab es, das wird Böhmermann und seine jungen Fans vielleicht überraschen, nämlich noch keine Smartphones, von denen man sich überall hin leiten lassen konnte, wo man nur wollte. Im Mai 1936 gab es schließlich einen Wettbewerb der inzwischen natürlich gleichgeschalteten Deutschen Apothekerschaft. Aus diesem ging das bis heute bekannte rote Fraktur-A als Sieger hervor. Die damals noch darauf zu sehende germanischen Rune wurde nach Kriegsende übermalt – und wenige Jahre später durch die deutlich sinnreicheren Symbole der Giftschale und der Äskulapschlange ersetzt. Es gibt also kein Problem mehr mit dem Zeichen. Außer natürlich, wenn man sonst keine anderen Probleme hat.
Nicht jeder ist in der glücklichen Position, sich seine Probleme aussuchen zu können. Das zeigen die Zuwächse, die die App Too Good To Go aktuell verzeichnen kann. Über die Anwendungen können Kunden sich Lebensmittel zur Abholung bestellen, die Gastwirtschaften, Bäckereien, Supermärkte und Kaffeehäuser sonst als Überschußware entsorgen müßten. Die gestiegenen Lebensmittelpreise der letzten Monate lassen immer mehr Menschen auf diese Möglichkeit zurückgreifen. Die wenigsten von ihnen dürften sich momentan noch einen Urlaub oder inspirierende Museumsbesuche à la Böhmermann leisten können. So wird in der Krise wohl für etliche Menschen mal wieder vor allem eins deutlich werden: Das Leben ist hart, aber ungerecht.