Es ist eine beeindruckende Machtdemonstration. Kanadas Hauptstadt Ottawa hat den Notstand ausgerufen, Premierminister Justin Trudeau hält sich seit Tagen versteckt, die Regierung taumelt. Die Fernfahrer, die in dem rauhen und dünnbesiedelten Land die Versorgung aufrechterhalten müssen, sind in gewaltigen Konvois in die Hauptstadt gezogen. Weil es ihr starker Arm will, stehen seit Tagen Tausende Räder still; zugleich überrollt eine Welle der Solidarität die Nation.
Was sich an einer Impfpflicht für grenzüberschreitenden Verkehr entzündete, hat sich längst zum Protest gegen die Einschränkung der Freiheitsrechte ausgewachsen, deren Begründungen immer weniger Bürgern einleuchten. Unruhige Zeiten, die – so könnte man meinen – eine Sternstunde für die politische Linke sein sollten. Hier der Arbeiter, der Trucker, der bisher den kulturellen Überbau einer unproduktiven Schickeria auf seinem Sattel mitschleppte und diesen nun die Realität spüren läßt.
Doch bis auf Ausnahmen ist der Blick linker Politiker auf die riesigen „Road Trains“, die sich durch die Straßen schieben, ängstlich bis offen feindlich. Denn sie sind längst Teil dieser Schickeria geworden.
Ideologische Welt der Linken
Was Linke hingegen auf die Straße bringt, hat selten mit der Lebenswelt des Arbeiters zu tun. Wenn „woke“ Gerechtigkeitskrieger in Berlin gegen Lebensmittelverschwendung protestieren und dazu Autobahnauffahrten blockieren, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, daß der aufgebrachte Handwerker, der sie von der Fahrbahn zerrt, ihr erster Kontakt mit der Arbeiterklasse ist. Wie konnte es zu dieser Entfremdung kommen? Dazu muß in ideologische Tiefen geschaut werden.
Nach marxistischer Vorstellung bestimmen die Produktionsverhältnisse das menschliche Bewußtsein. Ändern sich diese, so entsteht auch eine neue soziale Klasse mit einem ihr eigenen Bewußtsein. Was liegt daher näher, als durch vernunftmäßige Einsicht in die sozialen Wirkmächte in einem revolutionären Akt die Verhältnisse so zu ändern, daß eine neue Menschenklasse mit einem überlegenen Bewußtsein herangezüchtet wird?
Die Versuche der Linken, in die praktische Lebenswirklichkeit einzutauchen, sind sämtlich gescheitert. Nicht nur millionenfacher Tod und Verelendung waren die Folge. Was für die Theorie noch schlimmer war: daß dieses neue Bewußtsein schlicht nicht kam. Der Sowjetmensch, kaum sprangen ihm die sozialistischen Zwingeisen ab, wurde wieder zum Russen, zum Esten, zum Polen, der vor sich und der Welt die Heiligkeit der Familie, die Liebe zum Vaterland und für alles göttlichen Segen erbat.
Reale Verhältnisse nicht entdeckt
Offenkundig hatten Karl Marx und seine Anhänger nicht die realen Verhältnisse entdeckt, dafür aber etwas anderes. Nämlich eine Methode, Macht zu akkumulieren, die der menschlichen Eitelkeit schmeichelt, und dadurch ein einträgliches Auskommen sichert. Der linke Intellektuelle war geboren, der für das Soziale im wesentlichen Geschwätz beisteuert und dafür erwartet, von produktiven Teilen der Gesellschaft versorgt zu werden.
Das Bewußtsein, das sich aus diesem Verhältnis – und zwar nach linker Annahme – nur bilden konnte, ist die des Mitessers. Einen Sprung nach vorne, aus der Kraft seines Geistes, erhoffte sich der linke Intellektuelle für die Gesellschaft. Tatsächlich drängt er diese aber eine Stufe zurück.
Seine Lebensweise ist nicht die des Arbeiters, auch nicht des Kapitalisten, sondern ein Netzwerk von persönlichen Abhängigkeiten, Verbindlichkeiten, Gefälligkeiten. Ein gegenseitiges Zuschanzen von Posten und Privilegien, ein gegenseitiges Überwachen und Bestechen. Kurzum, es ist die alte Feudalgesellschaft, die gegenwärtig in Gestalt des Parteienstaates ihre Renaissance erlebt. Werte des Bürgertums verbleiben lediglich als wohlklingendes Geläut an der Fassade.
Es gilt nur Gruppenzugehörigkeit
Die Gleichheit vor dem Gesetz gilt nicht mehr, sondern nur die Gruppenzugehörigkeit, die dir der linke Intellektuelle zuschreibt. Es ist auch dieser Status, gepaart mit Unterwürfigkeit gegenüber der Partei, der dir den Zugang zu Wohlstand ermöglicht. Was du dagegen konkret für die Gesellschaft leistest, interessiert ebensowenig wie dem Feudalherrn das Opfer seiner Leibeigenen. Der neue Merkantilismus heißt, soviel Kapitalismus wie nötig, soviel Sozialismus wie möglich, für das Optimum der Beutegemeinschaft.
Doch einen Unterschied zum Ancien régime gibt es: Jener Stand konnte noch stolz auf eine Vergangenheit blicken, in der er zweifellos die höchsten kulturellen Blüten der Menschheit hervorbrachte, bevor er entleert zusammenbrach. Doch auf welche Höhen soll der linke Intellektuelle blicken? Alles an ihm ist Lüge, sogar die Behauptung, er sei intellektuell. Denn um die ganzen Unsinnigkeiten und Widersprüche linker Theoreme zu ignorieren, bedarf es schon eines Talents zur Begriffsstutzigkeit.
Genährt durch Ausbeutung
Wäre der linke Intellektuelle auf ehrliche Weise dumm, so hätte er mit sokratischer Bescheidenheit die Grenzen seines Intellekts durch harte Arbeit versetzen können. Aber seine hochgezüchtete Eitelkeit verhindert diese Erkenntnis. Die Widersprüche deines Denkens, so flüstert sie ihm ins Ohr, sind nicht Ausdruck des Versagens, sondern eines höheren, dialektischen Bewußtseins, welches zu erfassen dein Umfeld zu beschränkt ist. Und du es ihm deshalb auch nicht zu erklären brauchst.
So lebt der linke Intellektuelle vor sich hin, ein greiser Fötus in der Fruchtblase, genährt durch Ausbeutung. Er bedankt sich artig bei den Mächtigen und bekläfft jeden, der diese Herrschaftsordnung als ungerecht empfindet. Hat sich der Absolutismus auf eine dekadente Priesterschaft zur ideologischen Absicherung gestützt, so ist der linke Intellektuelle deren säkularer Wiedergänger.
Noch zehren die westlichen Gesellschaften von der Aufbauarbeit ihrer Vorfahren, doch alles ist endlich. In einem so harschen Klima wie Kanada zeigen sich Versäumnisse nur schneller als anderswo. Dann kann es dem Ancien régime schon einmal passieren, daß stählerne Kolosse wie wutschnaubende Tiere der Urzeit die Glasfassaden der Hochhäuser zum Dröhnen bringen. Auf das Treiben herab blickt staunend der linke Intellektuelle. Und irgendwo in seiner Furcht dämmert ein ahnendes Gefühl der Wirklichkeit auf.
JF 7/22