Wer ist schuld an der Niederlage Europas und der USA in Afghanistan? Mit Blick auf den Gesamteinsatz spielen zahlreiche Aspekte eine Rolle. Dagegen liegt die Verantwortung für die viel zu späte Evakuierung deutscher Staatsbürger und Ortskräfte aus Kabul mehrheitlich beim Bundesaußenminister – und nicht beim Bundesnachrichtendienst (BND).
Der Westen hat in Afghanistan eine spektakuläre Niederlage erlitten. Die Ursachen für das Scheitern sind offensichtlich. Zu ihnen gehören fehlerhafte Annahmen zu Demokratisierungsprozessen, eine nicht überzeugende Militärstrategie im Bereich der nachhaltigen Aufstandsbekämpfung und pfadabhängige Analysen in Großbürokratien. Zudem wurde die Kampfkraft der Taliban unterschätzt, und es war von vornherein unmöglich, deren ständige Aufwuchsfähigkeit in den Griff zu bekommen. Zumal unter Bedingungen eines uneinheitlich agierenden transatlantischen Bündnisses, dem es nicht gelungen ist, eine schlagkräftige afghanische Armee aufzustellen.
Am Ende wollten verantwortliche Politiker es einfach nicht wahrhaben, daß alles umsonst war. Allein die Kosten für den Militäreinsatz der Bundeswehr lagen für 2001 bis Ende 2020 bei 12,2 Milliarden Euro. Inklusive Entwicklungshilfe und weiterer Leistungen dürfte sich der Gesamtaufwand der Bundesrepublik auf mindestens 18 Milliarden Euro belaufen – genug Geld, um die deutschen Überflutungsgebiete von 2021 vollständig wieder aufzubauen. 59 Soldaten ließen am Hindukusch ihr Leben; unter ihnen befinden sich 35 Gefallene. Die Bundeswehr selbst spricht vom „höchste[n] Blutzoll“ aller Auslandseinsätze. Zu Grabe getragen wird nun auch ein von Anfang an unschlüssiges Konzept, failed states krampfhaft im Stile westlicher politischer Maßstäbe wieder auf die Beine zu helfen.
Maas versucht Verantwortung abzuwälzen
Was bleibt? Die zuständigen deutschen Entscheider versuchen sich reinzuwaschen, indem sie Aufnahmeprogramme für Ortskräfte aus Afghanistan ankündigen. Das ist keine Kleinigkeit, denn aus einer vierstelligen Zahl einstiger Helfer, die nun nach Deutschland geholt werden sollen, kann schnell eine fünfstellige Zahl von Personen werden. Dies hängt damit zusammen, daß auf jeden lokalen Unterstützer geschätzte vier bis fünf Familienangehörige kommen, denen ebenfalls Hilfe zuteil werden soll. Derweil dürften die Taliban dankbar für das moderne, erbeutete Kriegsgerät sein, das sie nun zur Kontrolle der eroberten Gebiete einsetzen können.
Von der Verantwortung für ein gescheitertes Aufbauprojekt ist jene für die viel zu späte Evakuierung deutscher Staatsbürger sowie von Ortskräften aus der afghanischen Hauptstadt zu unterscheiden. Im ersten Fall läßt sich ein ganzes Bündel an Fehlentscheidungen identifizieren, zu denen viele Personen beigetragen haben. Im zweiten Fall ist das anders. Hier liegt die Verantwortung mehrheitlich bei Heiko Maas.
Der Bundesaußenminister sieht das naturgemäß ganz anders. Er verweist auf eine fehlerhafte Lageeinschätzung des BND, die Grundlage der Entscheidung des Auswärtigen Amtes gewesen sei. Laut Medienberichten hat der Präsident der Behörde, Bruno Kahl, vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestages zugestanden, die Situation in und um Kabul falsch bewertet zu haben. Zudem wird kolportiert, seine Behörde habe noch am 13. August 2021 der Bundesregierung mitgeteilt, daß die Taliban erst im September dazu übergehen würden, die Macht zu ergreifen. Nur zwei Tage später war die Einschätzung des deutschen Auslandsnachrichtendienstes Makulatur.
Den Vormarsch der Taliban konnte jeder verfolgen
Der BND wird intern zu klären haben, wer aus welchen Gründen zur Erstellung eines defizitären Lagebildes beigetragen hat. Doch rechtfertigt ein singulärer Fehlgriff das Ansinnen von Heiko Maas, einen großen Teil der eigenen Verantwortung bei Bruno Kahl und der Behörde abzuladen? Ein solches Vorgehen ist aus mehreren Gründen unredlich:
1. Der BND hat über Jahre immer wieder auf die fragile Lage am Hindukusch hingewiesen. Daraus hätte die Politik frühzeitig den Schluß ziehen müssen, daß die Taliban mit dem geringen militärischen Ansatz des Westens nicht zu besiegen sind. Somit brauchte es von Anfang an einen Evakuierungsplan, und Medienberichten ist zu entnehmen, daß es Exit-Überlegungen auf Regierungsebene durchaus gab. Dabei können nun zwei Dinge schiefgelaufen sein. Entweder ist kein Kulminationspunkt festlegt worden: Ab welchem Zeitpunkt werden alle deutschen Staatsbürger und Ortskräfte mit welchen Maßnahmen umgehend außer Landes gebracht? Oder die Verantwortlichen in Berlin waren nicht in der Lage, rechtzeitig eine angemessene Entscheidung zu treffen.
2. Ein Evakuierungsplan taugt zudem nur dann etwas, wenn frühzeitig vor Erreichen des Kulminationspunktes schlagkräftige Militäreinheiten vor Ort stationiert werden. Sie müssen auf Abruf sofort einsetzbar sein. Weil dies alles versäumt worden ist, mußten hektisch Entsatztruppen von Deutschland nach Kabul geflogen werden – inklusive einsatztauglicher Helikopter für Einsätze des Kommandos Spezialkräfte. Dies alles liegt nicht in der Zuständigkeit des BND.
3. Der Vormarsch der Taliban in Afghanistan war für jedermann seit Monaten über journalistische Berichte offen nachvollziehbar. Dafür benötigte man keinen Nachrichtendienst. Der Trend hat ausschließlich in eine Richtung gezeigt: Die Gotteskrieger eroberten Distrikt um Distrikt, Provinz um Provinz, wohingegen sich die afghanischen Kräfte oftmals kampflos zurückzogen. Die Vorbereitungen für ein konkretes Evakuierungsunternehmen hätten also bereits vor einigen Wochen abgeschlossen sein müssen. War Bruno Kahl dafür verantwortlich? Nein!
Auch die Kanzlerin steht in der Verantwortung
4. Woran hat Heiko Maas also sein Zögern gebunden? Was gab es noch zu gewinnen – in einer Phase, in der die westlichen Truppen ihre Fahnen einholten und damit die Machtbalance dramatisch zugunsten der Taliban verbessert hatten? Von einer hohen Kampfkraft der afghanischen Streitkräfte konnte seit Wochen nicht mehr ausgegangen werden. Insofern gab es spätestens mit dem Abzug der letzten deutschen Soldaten Ende Juni 2021 hinreichend Anlaß, die Evakuierung deutscher Staatsbürger sowie von Ortskräften umgehend auf den Weg zu bringen.
Soweit dabei Fragen der militärischen Vorbereitung betroffen waren, stehen immer auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in der Verantwortung. Dennoch wiegt das Fehlverhalten von Heiko Maas schwerer, denn Transportflugzeuge und Fallschirmjäger waren angeblich ab dem 14. August 2021 marschbereit. Allem Anschein nach war es der Bundesaußenminister, der den Einsatzbefehl hinauszögerte. Bruno Kahl hatte auf diesen Prozeß keinen Einfluß.
5. Der BND versucht, in unklaren Lagen Licht ins Dunkel zu bringen. Punktuelle Deutungen und Prognosen unter chaotischen Bedingungen können daher immer nur Annäherungen an das Geschehen sein, manchmal vielleicht sogar nur grobe Schätzungen. Sämtliche Analysen stehen unter einem gewissen Vorbehalt – es gibt nie 100 Prozent Zuverlässigkeit in einer Prognose. Das galt auch für Afghanistan. Aus dieser Sicht muß der Fehler der Behörde bewertet werden. Der Presse ist zu entnehmen, daß die Auswerter des Dienstes ihre Berichte zur Situation am Hindukusch 2021 deutlich verschärft hatten. Heiko Maas mußte wissen, was auf ihn zukommt. Es ist daher wenig glaubwürdig, wenn er seine eigenen Versäumnisse mit einer fehlerhaften Einschätzung des BND am Ende einer langen Entwicklung zu entschuldigen versucht.
6. Aus eigener Anschauung darf ich ergänzen: Der deutsche Auslandsnachrichtendienst verfügt über herausragende Regionalexperten, die es ohne Probleme mit jedem Think-Tank-Vertreter aufnehmen können. Die Analysten des BND zeichnen sich durch nüchterne, sachlich gehaltene Bewertungen aus – im Gegensatz zu hin und wieder doch etwas träumerisch anmutenden Lageeinschätzungen einzelner Vertreter des Auswärtigen Amtes. Vom Strategen Otto von Bismarck gegründet, ist das Ministerium heute Vorreiter einer außenpolitischen Kultur mit hohem moralischem Sendungsbewußtsein.
Wunschvorstellungen ersetzen nicht selten die sachliche Lageanalyse. Dies fängt beim Bundesaußenminister an, der am 23. Juni 2021 über Twitter verkündete: „Die Taliban müssen zur Kenntnis nehmen, daß es kein ‘Zurück ins Jahr 2001’ geben wird. Dagegen steht eine selbstbewußte afghanische Zivilgesellschaft.“ Mit solchen selbstgefälligen Einlassungen demonstrierte Heiko Maas nicht nur bei dieser Gelegenheit, daß er mit den Anforderungen an das eigene Amt vollkommen überfordert ist. Ob ihn die zahlreichen Analysen des BND inhaltlich erreicht haben, muß zumindest in Frage gestellt werden.
Bislang keine Konsequenzen gezogen
Auch deshalb kann man es drehen und wenden, wie man möchte. Kein Weg führt an der Einsicht vorbei, daß letztlich der Bundesaußenminister die Hauptschuld für die zu späte Evakuierung trägt. Dem Präsidenten der Behörde eine Mitverantwortung an dem Desaster zu geben, ist ein durchschaubares Ablenkungsmanöver. Kahl hat zugestanden, die Lage nicht korrekt eingeschätzt zu haben. Dies hat aber Maas nicht davon entbunden, eigenständig nachzudenken und eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen.
Wer die Evakuierung trotz drückender Überlegenheit der Taliban aus welchen Gründen auch immer hinauszögert, hat für die Folgen geradezustehen. In einer Demokratie sollte dies eigentlich bedeuten, die politische Verantwortung zu übernehmen – auch aus Respekt gegenüber jenen Soldaten, die nun unter Einsatz ihres Lebens den Fehler des Ministers ausbügeln müssen.
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Martin Wagener ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Politik und Sicherheitspolitik am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin.
Kürzlich ist sein neues Buch in der Olzog-Edition des Lau-Verlages erschienen: „Kulturkampf um das Volk: Der Verfassungsschutz und die nationale Identität der Deutschen“.