Die Frage, wer und was deutsch – oder auch britisch (sowohl die Deutschen als auch die Franzosen bevorzugten und bevorzugen immer noch „englisch“), französisch, amerikanisch, russisch – ist, beschäftigt die betreffenden Völker schon seit langem. Nirgendwo mehr als hier in Israel, wo sie im Gründungsdokument des Landes, der Unabhängigkeitserklärung, absichtlich umgangen wurde.
Im Laufe der Jahrzehnte kam es immer wieder zu Regierungskrisen, weil eine oder mehrere der religiösen Parteien in der Knesset der Regierungskoalition ihre Unterstützung entzogen. Ganz zu schweigen von den zahllosen Fällen, in denen israelische Bürger nicht heiraten durften, weil das Rabbinat, das laut Gesetz für solche Angelegenheiten zuständig ist, sich weigerte, die Braut oder den Bräutigam als Juden anzuerkennen. Sicherlich haben viele Israelis, darunter auch einige Rabbiner, im Laufe der Jahre Wege gefunden, das Problem zu umgehen und trotzdem zu heiraten. Für viele andere ist es jedoch ungelöst geblieben.
Wie der Titel seines neuesten Buches, „Kulturkampf um das Volk: Der Verfassungsschutz und die nationale Identität der Deutschen“ schon andeutet, legt der Politikwissenschaftler Martin Wagener der Öffentlichkeit eine umfangreiche Geschichte des Umgangs mit dieser Frage in Deutschland vor. Eine der frühesten Figuren, die er behandelt, ist erwartungsgemäß Johann Herder. Aufgeklärter Philosoph, Literaturkritiker und Dichter. Ein wahrer Vertreter des Landes der Dichter und Denker.
Ob man es glaubt oder nicht, er hatte die Frechheit, über das „Gefühl einer Nation, eines Vaterlandes, einer Sprache“ zu schreiben. Und, viel schlimmer noch, „Nationalcharaktere“ und „die innersten Kammern der Nationaldenkart jedes Volkes“. Wo er aufgehört hatte, traten bald andere an seine Stelle. Für Schiller manifestierte sich der „Nationalcharakter“ in Form von Sprache, Literatur, Kunst, Musik, Malerei, Architektur und Wissenschaft. Zu behaupten, daß all dies und noch viel mehr sich nicht nur von einer Nation zur anderen unterscheidet, sondern von einer Generation zur nächsten durch Bildung weitergegeben wird und daher nicht einfach auszurotten ist – auf den Müllhaufen der Geschichte mit ihm!
Gefährliche Wandlung des Nationalismus
So wie Herder und Schiller ihn verkündeten, war der Nationalismus ziemlich harmlos. Nicht so in den Händen ihrer Nachfolger aus dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, sowohl innerhalb als auch außerhalb Deutschlands. Viele von ihnen brachten Nationen und ihre Kulturen nicht nur in eine Rangordnung – mit anderen Worten, sie bestanden darauf, daß einige Nationen anderen überlegen waren –, sondern rechtfertigten damit auch Krieg, Eroberung und Vorherrschaft über diese. Der Prozeß funktionierte auch andersherum: Krieg, Eroberung und das Streben nach Vorherrschaft schürten den Nationalismus wie nichts anderes.
Unmittelbar nach dem Nationalismus kam der Rassismus. Der Kern des Rassismus besteht in der Vorstellung, daß die kulturellen Unterschiede zwischen den Nationen nicht nur auf politische, wirtschaftliche und soziale Faktoren zurückzuführen sind. Vielmehr werden sie durch Vererbung weitergegeben und spiegeln die Biologie der Menschen wider.
Es war keineswegs eine ausschließlich deutsche Idee; ab etwa 1850 wurde es in ganz Europa zunehmend üblich, von „nordischen“ Rassen, „mediterranen“ Rassen, einer „britischen“ (und einer englischen, und einer schottischen, und einer irischen) Rasse, einer „lateinischen“ Rasse usw. zu sprechen. Legionen von Experten schossen aus dem Boden. Einige waren weit gereist und enorm gelehrt, wie zum Beispiel der Franzose Arthur de Gobineau und der Engländer Houston Chamberlain. Natürlich versuchten sie alle, die Überlegenheit ihrer eigenen Rasse gegenüber allen anderen zu beweisen.
Aus Gründen, die nicht ganz klar sind, war die Besessenheit von der Rasse, ihren Eigenschaften und der Notwendigkeit, sie rein zu halten, nirgendwo so intensiv wie in Deutschland. Der Höhepunkt wurde in den Jahren 1933-45 erreicht, was zu den schrecklichen Ereignissen führte, die so bekannt sind, daß sie hier nicht näher erläutert werden müssen. Nach dem Ende des Krieges tat die neu gegründete Bundesrepublik alles, um den Rassismus auszurotten. Das galt sowohl an der Spitze, wo dies zu einer der wichtigsten Aufgaben des Verfassungsschutzes wurde, als auch an der Basis, wo insbesondere die Schulen und Lehrpläne streng überwacht wurden, um sicherzustellen, daß weder Lehrer noch Schüler mit dem Rassismus infiziert wurden.
Wenn aus Anti-Rassismus Haß wird
Meiner Erfahrung nach – und ich bin jetzt seit fünfunddreißig Jahren in Deutschland ein- und ausgegangen, wobei ich nicht nur kurze Besuche, sondern drei getrennte einjährige Aufenthalte in zwei sehr unterschiedlichen Städten hatte – hat es funktioniert. Wenn überhaupt, dann ist der Rassismus rückläufig. Noch in den späten 1970er Jahren sprachen Leute, die alt genug waren, um die Hitlerjugend durchlaufen und in der Wehrmacht gedient zu haben, oft über die Unvermeidlichkeit, ja sogar die Erwünschtheit der „natürlichen Auslese“ und die Notwendigkeit, sie zu fördern.
Wie ein Blick auf „Google Ngram Viewer“ bestätigt, wird der Begriff „Rasse“ selbst nicht annähernd so häufig verwendet wie 1937, dem Spitzenjahr, und auch nicht so häufig wie 1989. Selbst wenn er benutzt wird, dann in der Regel, um das Konzept zu verurteilen und nicht, um es zu loben.
Wie uns Clausewitz gelehrt hat, hat der Krieg eine angeborene Tendenz zur Eskalation. Das gilt für den Krieg der Worte (und hinter den Worten die Ideen) ebenso wie für jede andere Art von Krieg. Seit 1968 hat sich die Verurteilung des Rassismus in all seinen Formen bis zu dem Punkt gesteigert, an dem – oft gar nicht so allmählich – in einen Haß auf alles Deutsche umschlägt. Vergeblich warnte Helmut Schmidt, gewiß nicht der schlechteste aller deutschen Regierungschefs nach 1949, seine Landsleute: Schüttet das Kind nicht mit dem Bade aus.
In Schmidts eigenen Worten, die Martin Wagener zitiert, lautet die Aussage: „Die Deutschen müssen lernen, daß die eigenen Beiträge im Guten wie im Schlechten zu unserer Geschichte dazugehören. […] Die Deutschen schwelgen derzeit in der Hervorhebung der negativen Seiten der deutschen Geschichte. Die dürfen auch nicht vergessen werden, aber die deutsche Geschichte besteht nicht nur aus einem Verbrecheralbum. Das ist der Irrtum einiger Wichtigtuer.“
Tendenz, die deutsche Geschichte zu verdammen
Über das mit Abstand größte Verbrechen der Nationalsozialisten sagt Schmidt folgendes: „Das ist ganz sicher so, daß der Holocaust an den Juden Europas noch Jahrtausende im Bewußtsein der Menschen aufgehoben sein wird. Aber gleichwohl wäre es zerstörerisch, den Holocaust und den von Hitler inszenierten Zweiten Weltkrieg zum allerheiligen moralischen Maßstab der Deutschen zu machen.“ In Klammern möchte ich hinzufügen, daß ich persönlich dem zustimme. Denn nur auf dieser Grundlage konnte ich in Deutschland leben, geschweige denn deutsche Freunde finden.
Heute ist diese Tendenz, die deutsche Geschichte zu verdammen, so weit fortgeschritten, daß man in Deutschland, wenn nicht sogar im Ausland (wo Mercedes, Audi und BMW immer noch hoch angesehen sind), alles als deutsch bezeichnet, was man als deutsch bezeichnen kann. Auch die Aufnahme eines Stroms von Migranten, deren Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Mensch und Gott, Männern und Frauen, Eltern und Kindern, Gut und Böse, Pflicht und Recht, Regierung und Volk sich so sehr von den in Deutschland vorherrschenden unterscheiden, daß letztere bedroht sind, zu zerfallen.
Dennoch, mit den Worten keiner Geringeren als Angela Merkel, die Professor Wagener ebenfalls zitiert, „wollen wir ein Integrationsland werden. […] Deshalb darf es keine Frage der Herkunft sein, sondern es muß für jeden klar sein: Jeder, der sich mit seinem jeweiligen kulturellen Hintergrund, mit seinen Interessen, Kenntnissen, Erfahrungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in unserem Land einbringt, ist ein Gewinn für unser Land“. Ungeachtet dessen, daß, wie Martin Wagener sagt, das Endergebnis des Prozesses nur die allmähliche, manchmal auch nicht so allmähliche, Herabstufung all dessen sein kann, was das deutsche Volk in den vergangenen Jahrhunderten hervorgebracht und geschätzt hat.
Es macht nichts, daß Deutschland und der Rest der EU, die sich weigerten, Stacheldraht und Männer mit Maschinenpistolen an den Grenzübergängen zu haben, diese nun an jeder Ecke haben, ganz zu schweigen von jeder Synagoge. Wie die historische Erfahrung in vielen Ländern zeigt, ist es sehr wahrscheinlich, daß es zu weit verbreiteter Gewalt und sogar zu Krieg kommt, wenn der Anteil einer kulturellen/religiösen Minderheit zwanzig Prozent übersteigt, was oft unvermeidlich ist. Man denke an die französischen Hugenottenkriege im sechzehnten Jahrhundert und den Dreißigjährigen Krieg. Oder an Indien im zwanzigsten Jahrhundert, insbesondere an die blutigen Ereignisse von 1947-49.
Keinerlei Rassismus
Um die Wahrheit zu sagen, meine Frau und ich lieben nur wenige Dinge mehr als einen Besuch in Deutschland, wie wir es nun schon seit zwanzig Jahren Jahr für Jahr tun. Davon abgesehen geht es mich nichts an, was dieses Land tut oder nicht tut. Als Akademiker kann ich jedoch nicht wegsehen, wenn Menschen daran gehindert werden, ihre Meinung zu sagen. Und das auch noch im Namen der Toleranz.
Lassen Sie mich also klarstellen: Als Israeli und Jude, dessen Eltern den Holocaust erlebt haben, habe ich weder in diesem noch in Wageners vorherigem Buch irgendetwas gefunden, das auch nur im Entferntesten als Rassismus verstanden werden könnte – also als die Vorstellung, daß einige menschliche kollektive geistige Eigenschaften biologisch bedingt und anderen überlegen sind.
Im Gegenteil: Indem er darauf beharrt, daß eine ungebremste Zuwanderung eine Katastrophe bedeutet, macht Martin Wagener den Migranten das Kompliment, sie und das, wofür sie stehen, ernst zu nehmen. Es kann auch keine Rede davon sein, daß er gegen die Demokratie ist und/oder Gewalt befürwortet. Ganz im Gegenteil, sein ganzes Bemühen gilt dem Erhalt der Demokratie, indem er verhindert, daß sich sektorale Gewalt nicht weiter ausbreitet, als sie es bereits getan hat.
Ein letzter Punkt. Weil er angeblich mit den „Identitären“ übereinstimmt, wurde Professor Wagener von der Lehre an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung suspendiert und sogar vom Kontakt zu seinen ehemaligen Studenten ausgesperrt. Als ob diese Studenten, intelligente junge Männer und Frauen, die speziell für einige der sensibelsten Posten im gesamten deutschen Beamten-/Polizei-/Militär-/Geheimdienstkomplex ausgewählt wurden und vorbereitet werden, zu dumm wären, um selbst zu urteilen. Und als ob es nicht die vorrangige Aufgabe der Hochschule wäre, ihnen genau dabei zu helfen.
Ob der offizielle Glaube, daß junge Deutsche dieses Kalibers nicht in der Lage sind, sich ein eigenes Urteil zu bilden, richtig ist oder nicht, weiß ich nicht. Ich kann nur sagen: Wenn dem so ist, dann Finis Germania. Das wäre dann aber auch kein großer Verlust.
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Prof. Dr. Martin van Creveld. Der renommierte Militärhistoriker beriet die Streitkräfte verschiedener Nationen, darunter auch das Pentagon. Geboren 1946 in Rotterdam lehrte er an den Universitäten Jerusalem und Tel Aviv.
Internationale Bekanntheit erlangte er 1991 mit seinem Buch „The Transformation of War“ („Die Zukunft des Krieges“). Darin nahm er die Formen des Krieges vorweg, mit denen sich der Westen seit dem 11. September 2001 konfrontiert sieht.
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Mittlerweile stellen sich auch andere Experten und Wissenschaftler hinter Wagener. So kommt der Freiburger Staatsrechtler Dietrich Murswiek in einer verfassungsschutzrechtlichen Stellungnahme zu dem Schluß, das Buch enthalte keinerlei verfassungsfeindliche Positionierung.
Und auch das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit hat sich zur Causa Wagener geäußert. Man sehe das Vorgehen gegen den Politikwissenschaftler mit Sorge, teilte die Vereinigung mit. „Zwar ist es nachvollziehbar, daß bei sicherheitsrelevanten Daten eine besondere Wachsamkeit angezeigt ist. Dennoch darf jedenfalls ein Eingriff in die Freiheit der Lehre nur auf verfassungsfeindliche Tendenzen, nicht auf wissenschaftliche Kritik an der Behörde allein, wie sie jüngst von Wagener geäußert wurde, gestützt werden.“
Und weiter: „Wir erwarten angesichts des hohen Stellenwerts der grundrechtlich garantierten Wissenschaftsfreiheit ein sorgfältiges und nachvollziehbares Handeln der Behörde.“ (krk)