Den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland (ZdJ), Josef Schuster, umgibt ein Flair aus Melancholie und Vergeblichkeit. Sein Auftritt unterscheidet sich von der selbstgewissen Präsenz eines Heinz Galinski oder Ignatz Bubis, zwei seiner Vorgänger. Die beherzte Unbedarftheit einer Charlotte Knobloch liegt ihm gleichfalls fern, ebenso die gehässige Arroganz und Mir-kann-keiner-Mentalität des Michel Friedman. Die melancholische Anmutung ist charakterbedingt, aber sie hat auch Gründe und Anlässe, die jenseits seiner Person liegen.
Das führt zur Frage, wie sich der sympathische Eindruck mit der Semantik seiner tagespolitischen Einlassungen verträgt. Beispielhaft ist sein Geleitwort zum Buch „Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde“, das soeben im Freiburger Herder-Verlag erschienen ist.
Schuster sieht antisemitischen Stereotype
Schuster, promovierter Arzt und Internist, hält das Anliegen der Querdenker für falsch und ihre Kundgebungen ohne Maske und Mindestabstand aus medizinischer Sicht für fatal. Darüber ließe sich diskutieren, doch statt des argumentativen Floretts holt er den ganz großen Vorschlaghammer heraus: In der Bewegung versammelten sich Rechtsextremisten mit linken Impfgegnern, Ökolatschen mit Springerstiefeln. „Sie alle eint die angebliche Überzeugung, daß die Grundrechte zu Unrecht eingeschränkt wurden.“
Die Extremisten von rechts nutzten die Bewegung als „Bühne (…), um den aus ihrer Sicht notwendigen Sturz ‘des Systems’, also des demokratischen und liberalen Rechtsstaats, herbeizuführen“. Der zweite Glaubenssatz der Querdenker laute, „daß eine geheime Elite das Virus in die Welt gesetzt habe, daß die Bürger zu Marionetten wurden etc. Das alte antisemitische Narrativ der jüdischen Weltverschwörung wurde der aktuellen Situation angepaßt.“ Die knallige Überschrift lautet entsprechend: „Die Querdenker-Gruppen sind sich einig – in antisemitischen Stereotypen“.
Im normalen Leben, auf privatrechtlicher Ebene, wäre eine Anzeige wegen übler Nachrede fällig. In der Tat sind die Querdenker eine heterogene Bewegung, ihre Antriebe unterschiedlich, als da wären: Die Erdrosselung des urbanen Lebens. Die Abschaltung der Kultur. Die Not des Einzelhändlers. Die Einsamkeit des Rentners, dem der mittägliche Schwatz in der Eckkneipe fehlt. Der permanente Panikmodus der Medien, der zu Neurosen, Angstzuständen, Aggressionen führt. Ach ja, Spinner gibt es in der Szene auch – schließlich gibt es die überall.
Wer hat den Nazi-Vergleich zuerst bemüht?
Mediziner, die nicht dümmer als die Herren Drosten, Lauterbach oder Wieler, jedoch völlig anderer Meinung sind, haben keinen Zugang zu den großen Medien, und ihre privaten Kanäle auf Youtube, Facebook oder Twitter werden abgeschaltet. Das bedeutet die Gleichschaltung der öffentlichen Information und Meinungsbildung.
Die Zerstörung des „liberalen Rechtsstaates“ findet auf ganz anderer Ebene statt, als Josef Schuster meint. Als vorsätzliche Corona-Verursacher werden höchstens die Chinesen benannt. Und der Verdacht, daß der Ausnahmezustand zur Transformation für ein „Great Reset“, für den totalen Umsturz unserer Lebenswelt, genutzt werden soll, ist wahrlich keine Erfindung von „Covidioten“.
Besonders perfide empfindet Schuster, daß Querdenker sich mit den Opfern der Judenverfolgung in eine Reihe stellen. So habe eine Demonstrantin einen gelben Stern mit der Aufschrift „nicht geimpft“ bei sich geführt und eine Elfjährige sich mit Anne Frank verglichen. Auch „Jana aus Kassel“, die sich als Wiedergängerin von Sophie Scholl vorstellte, ließe sich dieser Kategorie zurechnen.
Solche Vergleiche sind falsch und geschmacklos, doch sie haben eine dialektische Zwangsläufigkeit, wenn Widerspruch zur Regierungspolitik mit dem Nazi-Stigma versehen wird und ihre Unterstützer sich weiße Rosen ans Revers heften. Es handelt sich um eine rhetorische Gegenmobilisierung, um eine Retourkutsche aus unterlegener Position.
Antisemitismus hat in den Schulen bestand
Zum Schluß zwingt Schuster sich prospektiven Optimismus ab: „Ich bin zuversichtlich, daß wir mit dem Ende der Hygienemaßnahmen wieder viele echte Demokraten auf der Straße sehen werden. Die Demos von Fridays for Future werden ebenso wieder losgehen wie Demos gegen Rassismus und Antisemitismus und für die Demokratie.“
Hoffentlich ziehen die „hüpfenden Fruchtzwerge“ (Henryk M. Broder) es vor, nach der Zwangsquarantäne endlich wieder etwas zu lernen, statt auf den Spuren eines beschädigten schwedischen Teenagers zu wandeln. Organisierte Massenaufmärsche fördern weder die Demokratie noch bringen sie couragierte Individuen hervor. Sie kitzeln bloß den Jagdinstinkt der Hetzmeute heraus, die sich über Wehrlose hermacht.
Einen Sammelband, der sich so ein Geleitwort leistet, kann der Leser sich ersparen. Warum nur läßt Schuster sich zu solcher Demagogie hinreißen? Die Antwort ist bedrückend: Aus seinen Sätzen spricht Furcht, die er – wiederum aus Furcht – auf eine falsche Ursache projiziert. Er beklagt, daß in den Schulen der Antisemitismus als „kollektiver Wissensbestand“ tradiert würde, wagt aber nicht, den Gorilla auf der Schaukel beim Namen zu nennen. Trotzdem weiß jeder, worum es geht, und daß nicht die Querdenker und AfDler (die in Schusters Text ebenfalls ihr Fett wegbekommen) dafür verantwortlich sind.
Die wahren Gründe sieh der Zentralratspräsident nicht
Vor 20 Jahren dachte man, wenn vom „Zentralrat“ die Rede war, automatisch an den Zentralrat der Juden. Heute steht der Zentralrat der Muslime mindestens gleichberechtigt daneben. Die Macht der Demographie, auf der Straße längst sichtbar, fordert nun im politischen und medialen Raum ihr Recht.
Die Machtverschiebung hängt unmittelbar mit der Einwanderung aus dem islamischen Raum als Folge einer irrationalen deutschen Politik zusammen. Die öffentlichen Interventionen des ZdJ, dem als Konsequenz aus den NS-Verbrechen moralische und symbolische Macht zukam, haben dazu ihr Scherflein beigetragen.
Den Neubürgern bedeuten diese Macht und ihre historischen Hintergründe nicht das geringste, und sie zu ihrer Anerkennung zu zwingen, fehlt dem Staat die Kraft. Im Gefühl fortschreitenden Machtverlusts und in der eigenen Rhetorik gefangen, ist dem Zentralrat der Juden und seinem Präsidenten eine realistische Benennung der Situation unmöglich. Deshalb versichert Schuster die Regierenden seiner bedingungslosen Loyalität, indem er ihre Kritiker in Grund und Boden kritisiert. Was die Bitte an sie einschließt, die Juden in Deutschland vor den negativen Folgen der Politik effektiver zu schützen.
Schusters rhetorische Verrenkungen haben etwas Verzweifeltes. Objektive Gründe für sein Flair aus Melancholie und Vergeblichkeit gibt es reichlich.
JF 16/21