Die diesjährigen Weihnachtsfeiertage waren für viele Menschen die einsamsten ihres Lebens. Etliche im Land werden sie erstmals ohne ihre Liebsten verbracht haben. Einige werden durch die strengen Kontaktbeschränkungen auch mit der knallharten Wahrheit konfrontiert worden sein, daß sie selbst nicht zu den Liebsten ihrer Liebsten gehören.
„Heute nur Gästeliste.“ Die bittere Abweisung vor der Diskotür war und ist in Corona-Zeiten eines der letzten traurigen Überbleibsel aus den vergangenen Tagen der Spaßgesellschaft. Nun, da der Spaß weitgehend Pause hat, mußte so manch einstiger Partygast lernen, daß der Satz „Du bist uns immer willkommen“ in Wahrheit eigentlich maximal hieß: „Du bist uns immer willkommen, solange wir uns nicht zwischen dir und anderen entscheiden müssen.“
Wie selten zuvor dürften die hellen und strahlenden Lichter der Weihnachtszeit dieser Tage all das aus dem Dunklen geholt haben, was die eigenen Mitmenschen das Jahr über so falsch gemacht haben. Wie die Suchscheinwerfer eines Gefängnishofes, die erbarmungslos auf jede einzelne Verfehlung und Enttäuschung der vergangenen Monate gerichtet sind.
Wer entspricht noch den Maßstäben?
„Ist dieser Sünder – nach all den Gemeinheiten und Fehlern, die er sich geleistet hat – es noch wert, zum erlesenen Kreis meiner reduzierten Kontakte zu gehören?“ „Hält dieses schwarze Schaf der Familie oder dieser immer wieder strauchelnde Freund meinen Maßstäben für wichtige Leute noch Stand?“ So könnten sie lauten, die inneren Fragen der Neuordnung in dieser ganz besonderen Prüfungsphase.
Dieses Abwägen macht aus einer Zeit, die eigentlich eine Zeit des Vergebens und der Versöhnung sein sollte, eine Zeit der Verurteilung und der bitteren Reue, die, sei sie auch noch so ehrlich und tief empfunden, für viele einfach zu spät kommen dürfte, als das sie noch dazugehören könnten.
Der Druck zur Entscheidung, die im Zweifel auch eine Entscheidung zwischen den staatlichen Anordnungen und dem eigenen Gefühl ist, war und ist groß. Erhöht wurde er durch zahlreiche Zeitungsartikel, die auf die drohenden Strafen bei Verstößen gegen die Pandemie-Feiertagsregeln hinwiesen oder gar Ratschläge gaben, wie man sich verhalten solle, wenn die eigenen Nachbarn sich während der Feiertage nicht an die Verordnungen halten.
Ditfurth hat die Nachbarn im Blick
Warum sich auch aus dem Leben der anderen heraushalten, wenn man sie auch in bester Blockwart-Manier anschwärzen kann, weil sie das Fest der Nächstenliebe mit all ihren Liebsten feiern und dabei vielleicht noch nicht einmal die Abstandsregeln einhalten? Das dachte sich wohl auch Jutta Ditfurth, als sie an Heiligabend twitterte: „Von etwa 60 Wohnungen, die ich aus meinem Fenster sehe, haben nur 4-5 das Licht an. Alle anderen sind offensichtlich ausgeflogen.“
Von etwa 60 Wohnungen, die ich aus meinem Fenster sehe, haben nur 4-5 das Licht an. Alle anderen sind offensichtlich ausgeflogen.
— Jutta Ditfurth (@jutta_ditfurth) December 24, 2020
Das ist so erbärmlich, daß einem die frustrierte, einsame, alte Frau hinter dem Tweet und der Gardine fast leid tun könnte. Angesichts ihrer Boshaftigkeit und dem Wissen, daß es wohl in jeder Nachbarschaft so eine Jutta Ditfurth gibt, sollte sich das Mitleid allerdings in Grenzen gehalten haben. Dafür dürfte so manch einem der „Ausgeflogenen“ beim Lesen des Tweets aber das legendäre Zitat von Nina Hagen in den Sinn gekommen sein, die über die linksgrüne Wuchtbrumme mit der Stasi-Mentalität einst sagte: „Ich finde es furchtbar, was diese dicke Frau da mit mir macht.“
Viele werden sich dennoch überlegt haben, ob sie an Weihnachten wirklich ausfliegen wollen oder wen sie sich an den Festtagen ins Nest holen. Sei es aus Angst vor staatlichen Repressionen und Jutta Ditfurth, oder weil sie tatsächlich glauben (wollten), daß dies das moralisch richtige Verhalten sei. Nach dem Motto: „Wir glauben nicht mehr ans Christkind. Wir glauben an Christian Drosten.“
Suizid ist schließlich nicht ansteckend
Der britische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton schrieb einst in seiner „Handreichung für die Ungläubigen“: „Die Wissenschaftler versprechen uns Gesundheit, etwas unleugbar Förderliches; erst im Nachhinein merken wir, daß sie unter Gesundheit leibliche Knechtschaft und geistige Langeweile verstehen.“
Ob all das in der Summe tatsächlich mehr Leben rettet, bleibt allerdings fraglich. Bereits im vergangenen Monat schockierte die Berliner Zeitung mit der Nachricht, wonach die Rettungskräfte in der Hauptstadt 2020 bisher 294 Mal unter dem Stichwort „beinahe Strangulierung/ Erhängen“ ausrücken mußten. Zum Vergleich: Im Vorjahr waren es lediglich drei solcher Einsätze.
Selbst in Japan, einem Land das nicht gerade dafür bekannt ist, daß seine Bewohner zu viel feiern oder übertrieben distanzlos miteinander knuddeln, ist die Selbstmordrate bereits im Sommer erheblich gestiegen. Die Entscheider, Verurteiler und Neuordner werden sich von all dem nicht den eigenen Moralinsäure-Haushalt aus dem Gleichgewicht bringen lassen. Suizid ist schließlich nicht ansteckend. Zumindest nicht nach ihrer Definition.