Der November 1918 bescherte den Deutschen die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Revolution. Er markierte ein Ende und zugleich den Übergang in einen Latenzzustand, der noch hundert Jahre danach sein beunruhigendes Potential freisetzt. Um die Bedeutung und Dimension des Endes zu erschließen, muß man über den Kriegsausbruch 1914 hinaus wenigstens bis zur Reichsgründung 1871 zurückgehen.
Bis zu dem Zeitpunkt waren die deutschen Kleinstaaten und selbst Preußen als die kleinste unter den europäischen Großmächten vor allem Durchmarschgebiet, Manövriermasse, jedenfalls Objekte im europäischen Mächtespiel gewesen. Nun lebten die Deutschen im mächtigsten Land Europas, das allerdings aus geographischen, geschichtlichen und politischen Gründen permanent gefährdet war. Dieser Konflikt bildete den Ausgangspunkt für Bismarcks ausgleichende Politik, während die meisten Deutschen den rasanten Aufstieg, den das Deutsche Reich in der Wirtschaft, der Wissenschaft und dem Geistesleben nahm, für selbstverständlich und den Garanten seiner selbst hielten.
Das illusorische Gefühl der Unangreifbarkeit zeigte sich in der Erwartung eines heute vergessenen Historikers, der nächste Krieg würde „das rechte Exempel werden auf die Echtheit unserer Macht, auf die Zukunft unserer Kultur“. Dieses Exempel war im November 1918 mit Aplomb gescheitert. Die deutsche Staatskunst in Berlin hatte nicht verhindern können, daß Deutschland von der halben Welt als Feind bekämpft wurde. Die Nation wurde brutal auf die Einsicht gestoßen, wie fragil der Erfolg und der Bestand ihres Nationalstaates waren.
Max Weber tobte vor Zorn
Die Reaktionen waren gespalten. Max Weber geriet außer sich vor Zorn über ein „Literatenvolk“, das sich in Bezichtigungen einer deutschen „Kriegsschuld“ erging und den unversöhnlichen Kriegsgegnern als Kronzeuge anbot. Die Niederlage, schrieb er im Januar 1919, mußte für diese Leute unbedingt die Folge einer Schuld sein, „dann nur entsprach sie jener ‘Weltordnung’, welche alle solche schwachen, dem Antlitz der Wirklichkeit nicht gewachsenen Naturen allein ertragen“.
Weber skizzierte hier den Typus des Unpolitischen, der die Politik aus einer rein idealistischen Perspektive betrachtet und damit verkennt. Die Neigung, politischen Herausforderungen durch moralische Selbstanklagen, den Nachweis eigener Harmlosigkeit und durch exzessive Nachgiebigkeit zu begegnen, ist bis heute eine verbreitete deutsche Eigenschaft.
Ergänzend wies der Sozialpsychologe Kurt Baschwitz auf die Wirksamkeit des „Spiegelgedankens“ hin. Als die alliierte Kriegspropaganda von abgehackten belgischen Kinderhänden berichtete, projizierte sie die Praxis der belgischen Kolonialtruppen im Kongo auf Deutschland. Gleichzeitig dienten solche Greuelberichte der moralischen Selbstentlastung angesichts der über Deutschland verhängten Hungerblockade, die tatsächlich Hunderttausende deutsche Kinder Leben und Gesundheit kostete. Trotzdem waren solche Spiegelprojektionen so übermächtig – und war die deutsche Gegenpropaganda derart hilflos –, daß sie sogar bei vielen Deutschen auf Resonanz stießen.
Die Folge in der Weimarer Republik war die unversöhnliche Konfrontation zwischen Linken und Rechten, zwischen „Novemberverbrechern“ und „Kriegsverbrechern“, zwischen erbitterten Stahlhelmern und „Soldaten sind Mörder“-Skandierern, zwischen kosmopolitischen Überzeugungstätern, die sich lieber mit dem revolutionären Rußland oder den idealisierten westlichen Demokratien identifizierten, und den zunehmend aggressiven Nationalisten. Einen nationalen Konsens für ein Gefallenen-Gedenken gab es nicht.
Es war eine europäisch-abendländische Niederlage
Diesen nach innen und außen unerträglichen Zustand hätte man nur durch eine länderübergreifende „Staatsklugheit“ (Baschwitz) überwinden können. Der braune Zampano aber, der 1933 die Macht ergriff, führte die innere Befriedung dadurch herbei, daß er das Pazifisten-Lager kurzerhand mit Gewalt zum Schweigen brachte. Um die Position Deutschlands im internationalen Gefüge wirklich unangreifbar zu machen, ging er mit Kontrahenten und Kriegsgegnern in einer Weise um, die jenem Horrorbild entsprach, das die Alliierten im Ersten Weltkrieg fälschlich von den Deutschen gezeichnet hatten. 1945 erschien die Propaganda von damals als eine hellsichtige Prophezeiung und damit gerechtfertigt.
Entsprechend frißt die manische Vergangenheitsbewältigung, die zunächst dem NS-Jahrzwölft galt, sich immer tiefer in die deutsche Geschichte ein. Der Erste Weltkrieg ist heute in der kollektiven Erinnerung weitgehend in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs eingeschmolzen und gilt als zu Recht verloren. Bei den französischen Gedenkfeiern am 11. November 2009 übertrug Kanzlerin Merkel die deutschen Bußformeln, die dem Gedenken an die NS-Zeit vorbehalten sind, unbekümmert auf das Jahr 1918.
Aufmerksame Zeitgenossen bemerkten damals schon, daß die europäischen Gewinner des Krieges genauso in den Abgrund gezogen wurden wie die unterlegenen Mittelmächte. Besonders eindrücklich hat Oswald Spengler formuliert, daß die deutsche in Wahrheit eine europäisch-abendländische Niederlage war.
Indem die Nachbarländer Deutschlands sogar Hilfstruppen aus Afrika und Asien mobilisierten, um das Herzland des eigenen Kontinents zu erstürmen, hätten die europäischen Völker die Achtung der anderen verspielt und seien „von ihrem einstigen Rang herabgestiegen. Sie verhandeln heute, wo sie gestern befahlen, und werden morgen schmeicheln müssen, um verhandeln zu dürfen. Sie haben das Bewußtsein der Selbstverständlichkeit ihrer Macht verloren und merken es nicht einmal.“ Heute wird Wirklichkeit, was vor hundert Jahren als Flammenschrift an der Wand erschien.
JF46/18