Das politische Sommerloch in Berlin endet am kommenden Sonntagabend, 18 Uhr. Dann schließen in Sachsen die Wahllokale. Danach könnten die Uhren politisch anders gehen in Deutschland. Schon einmal formierte sich hier eine bürgerliche Freiheitsbewegung. In Leipzig gingen vor 25 Jahren Hunderttausende auf die Straße und skandierten „Wir sind das Volk“. Die tapferen Sachsen leiteten damit den Sturz der SED-Diktatur und den Fall der Mauer ein. Wiederum in Sachsen könnte nun das alte westdeutsch geprägte Parteiensystem sein Ende finden. Der Ruf „Wir sind das Volk“ schwingt auch mit bei dem, was sich mit der Alternative für Deutschland (AfD) Bahn bricht.
Die AfD steht vor ihrem entscheidenden innenpolitischen Durchbruch – wenn sie diesen nicht noch im letzten Moment verstolpert. Seit Monaten liegt sie im Freistaat bei Meinungsumfragen stabil über der Fünfprozenthürde. Hier fuhr sie auch bei der Bundestagswahl im September vergangenen Jahres und bei der Europawahl im Mai die höchsten Wahlergebnisse ein. Gelingt der Einzug in Sachsen, so ist ein Erfolg zwei Wochen später in Thüringen und Brandenburg greifbar.
Konservative Forderungen
Das politische Berlin registriert irritiert die sich anbahnende Umwälzung. Die linke taz titelte vor wenigen Tagen alarmiert: „Gibt es eine deutsche Tea Party?“ Längst beschränke sich die Programmatik der AfD nicht mehr nur auf die Absage an die Euro-Rettungspolitik, sondern es addierten sich konservative Forderungen, ob für eine starke Polizei, gegen feministische Quoten-Politik, Gender-Umerziehung an Schulen, Homo-Lobbyismus, Abtreibung oder Einwanderung in die Sozialsysteme.
Einen Schock hat die in die Jahre gekommene rot-grüne taz-Klientel noch nicht verdaut, die immer glaubte, das Urheberrecht für Basisdemokratie und Bürgerinitiativen zu besitzen: In Baden-Württemberg formierte sich im vergangenen Jahr ein breiter Protest gegen den grün-roten Gender-Bildungsplan des Landes. Zehntausende Bürger protestierten immer wieder in Stuttgarts Innenstadt und forderten den Stopp der Frühsexualisierung und ideologischen Indoktrinierung ihrer Kinder. Zum Entsetzen der Grünen – und des CDU-Establishments – waren AfD-Aktivisten federführend bei diesen Protesten, Schulter an Schulter mit konservativer CDU-Stammklientel.
Ungebremster Linkskurs der CDU
Fassungslos müssen auch eingespielte Netzwerke in Medien und Wirtschaft zusehen, wie die AfD zudem „den Exitus der FDP beschleunigt“ (Hugo Müller-Vogg) und damit das gut geölte und wendige Scharnier vieler Koalitionsregierungen ausmustert. Die Karten werden neu gemischt, eine völlig andere Arithmetik im politischen Machtgefüge kristallisiert sich heraus. Die Wirtschaftswoche stellt fest: „Rechts ist die neue Überholspur.“
Bislang bewegte sich die CDU ohne konservative Konkurrenz auf ungebremstem Linkstrend. Grüne, Linkspartei und FDP plus ein linksliberaler medialer Komplex übten Dauerdruck auf eine sich stets opportunistisch anpassende CDU aus – halb zog es sie, halb sank sie hin. Doch jetzt mit der AfD erhält die Union plötzlich Druck „von rechts“. Kaum ist der Einzug der AfD in greifbarer Nähe, ändern sich auch die Machtoptionen der CDU. Sachsens Ministerpräsident Tillich setzt mit der Spekulation über Sondierungsgespräche mit der AfD den mutmaßlich verbleibenden potentiellen Koalitionspartner SPD unter Druck. Selbstverständlich wird die CDU noch keine Koalition mit der AfD eingehen wollen. Doch so geht Politik.
Die Piraten sind ein schlechtes Vorbild
Die AfD ringt andererseits trotz stabiler Umfragewerte mit starken internen Spannungen. Die junge Partei ächzt unter den Wachstumsschmerzen eines beispiellos rasanten Aufstieges. Im Februar 2013 initiiert, wurde in einem Blitzstart bei der Bundestagswahl im September mit 4,7 Prozent der Einzug in den Bundestag nur knapp verfehlt. Ein Dreivierteljahr später dann der erste Parlamentseinzug – 7,1 Prozent bei den Europawahlen im Mai dieses Jahres.
19.000 Mitglieder zählt die AfD, organisiert in 16 Landesverbänden. Sachsens smarte AfD-Vorsitzende Frauke Petry, die als Unternehmerin selbst im vergangenen Jahr eine Insolvenz durchstehen mußte, kann ein Lied davon singen, wie schwer eine Firma aufzubauen ist. Ungleich komplizierter ist dies bei einer permanenten demokratischen Abstimmungen unterworfenen Organisation. Neue Parteien unterliegen zudem bei schnellem Wachstum enormen Zentrifugalkräften.
Glücksritter, Partei-Hopper, Hochstapler, Streithansel, Fanatiker kapern regelmäßig aufstrebende politische Projekte und sorgen genauso regelmäßig dafür, daß diese gegen die Wand fahren. Jüngstes abschreckendes Beispiel: Die Piratenpartei zerfleischt sich nach furiosem Einzug in vier Landtage gerade selbst und taumelt dem Abstieg in die Bedeutungslosigkeit entgegen.
Die Zukunft der AfD steht auf Messers Schneide
In der vergangenen Woche wurden personelle und inhaltliche Bruchlinien der AfD dramatisch sichtbar: Plötzlich eskalierte ein Streit um die Rußlandpolitik der Partei. Von Spaltung war die Rede. Nur vordergründig ging es um die Ukraine-Krise. Erkennbar wurde hier, mit welchem fanatischen Eifer Kleingruppen versuchen, die AfD auf einen fundamentalistischen Kurs „gegen das System“ zu führen. Dabei spielt bei ihrem Kernthema die Zeit wieder für die AfD: Mit der französischen Regierungs- und Wirtschaftskrise gewinnt die Euro-Existenzfrage eine neue Brisanz.
Bislang sind die Probleme der exzessiven Staatsverschuldung und der drohenden Haftungszusagen Deutschlands für fremde Schulden nicht gelöst, sondern nur verschleiert – durch die extremen Niedrigzinsen, welche die Zentralbank durch ihre Billiggeld-Strategie verursacht.
Ungeklärte Führungsfragen und schwierige Abstimmungsprozesse einer in Brüssel gebundenen Parteispitze erhöhen jedoch das Konfliktpotential in der AfD, deren Schicksal auf Messers Schneide steht. Realpolitiker Bernd Lucke, mit dem die Partei weiterhin steht und fällt, wird hier Führungs- und Integrationskraft zeigen müssen.