Der Begriff „Inklusion“ geht den meisten – also Nichtpolitikern, Nichtsoziologen, Nichtpädagogen – schwer über die Zunge. Er ist ungewohnt, hat sich irgendwie angeschlichen und scheint doch plötzlich allgegenwärtig. Da ist die Rede von „Inklusion“, der „inklusiven Gesellschaft“ und dem „Inkludieren“, und dem hängt ein Pathos an, das den Eindruck vermittelt, als ob Inklusion schon immer auf dem Plan der Geschichte gestanden habe, mindestens zu ihren verborgenen Endzielen gehörte und jedenfalls kein Widerspruch dagegen möglich sei – es sei denn um den Preis, sich als Menschenfeind, Anhänger von „Exklusion“, sprich Selektion, Apartheid, zu erweisen.
Tatsächlich ist der Begriff Exklusion im Gegensatz zu Inklusion schon länger im Umlauf: als Stigma, das man vormodernen Verhältnissen oder Vorstellungsweisen anheftet, die auf Hierarchie und Differenz beruhten und jedenfalls bestimmten Gruppen aus bestimmten Gründen die Teilhabe versagten, vor allem die Teilhabe an ökonomischen oder kulturellen Chancen.
Ein Sozialstaat mehrt die eigene Klientel
Bei genauerer Prüfung zeigt sich weiter, daß in der Ideologieproduktion der letzten Jahrzehnte eifrig daran gearbeitet wurde, solchen Ausschluß als menschenverachtend zu brandmarken und dem das Ideal einer „inklusiven“ Gesellschaftsordnung entgegenzustellen. Da die kaum auf direktem Weg einzuführen ist, setzte man in jenen Bereichen des Sozialstaats an, deren Interesse es sein muß, die eigene Klientel zu mehren und immer neue Gruppen von Betroffenen aufzutun, die der Betreuung und der dauernden Hilfe bedürfen.
Die Schule ist da ein besonders geeignetes Feld, was auch das Tempo erklärt, mit dem seit 2009 zuerst die Bundesregierung, dann die Landesregierungen vorgingen, um unter Berufung auf die UN-Behindertenrechtskonvention ein „inklusives Bildungs- und Berufsumfeld von Beginn an“ durchzusetzen. Praktisch muß das auf den sukzessiven Abbau aller sonderpädagogischen Einrichtungen hinauslaufen und auf einen Rechtsanspruch körperlich wie geistig behinderter Kinder, mit Nichtbehinderten gemeinsam in sämtlichen Erziehungseinrichtungen betreut zu werden.
Inklusion ist „Kommunismus für die Schule“
Ausdrücklich weist man darauf hin, daß es bei „Inklusion“ nicht um „Integration“ geht, die die Verschiedenheit anerkennt, sondern darum, daß irgendwie jeder irgendwie anders und letztlich „alle … behindert“ (Wolfgang Schäuble) sind. Diese Auffassung stimmt überein mit der mächtiger Einflußgruppen, von der Unesco über die OECD bis zur Bertelsmann-Stiftung, die die Inklusion vorantreiben, wahlweise mit menschenfreundlicher oder ökonomischer Argumentation, meistens mit einer Kreuzung aus beidem. Weshalb sich gegen die Durchsetzung auch kein Widerspruch erhebt, jedenfalls kein lauter.
Eine Debatte über die „inklusive Schule“, wie sie der Kultusminister Mecklenburg-Vorpommerns, Mathias Brodkorb, hat führen lassen, gab es in keinem anderen Bundesland, sowenig wie sich die Feststellung Egon Flaigs wiederholt hat, Inklusion sei „Kommunismus für die Schule“ und der Todesstoß für das Leistungsprinzip. Äußerstenfalls wird darauf hingewiesen, daß Regeleinrichtungen weder personell noch technisch auf die Betreuung von körperlich und geistig Behinderten eingerichtet sind, aber an dem Konzept selbst macht sich keine Kritik geltend.
Die Welt als großes Hospital der Humanität
Das ist nur damit zu erklären, daß auch dieser Akt staatlicher Bevormundung von den meisten als legitim betrachtet wird. Zur Erklärung könnte man Bezug nehmen auf eine Zukunftsvision Goethes, die er knapp umrissen hat mit den Worten, „auch muß ich selbst sagen, halt’ ich es für wahr, daß die Humanität endlich siegen wird, nur fürcht’ ich, daß zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des anderen humanitärer Krankenwärter sein werde“.
Aber zutreffender ist wohl noch der Hinweis auf eine historische Tendenz „langer Dauer“, die die Entwicklung in den westlichen Gesellschaften seit fast zweihundertfünfzig Jahren bestimmt, und die Alexis de Tocqueville unübertroffen analysiert hat, daß nämlich „das Verlangen nach Gleichheit immer unersättlicher“ wird, „je größer die Gleichheit ist“. Das heißt, daß die Anerkennung der Gleichheit als Prinzip jede Art von Ungleichheit – mag sie noch so substantiell sein – unerträglich macht.
Der „Gleichheitsstaat“ ist ein Gesinnungsstaat
Der ursprüngliche Impuls der Aufklärung, die die Rechtsgleichheit aller Individuen vertrat, führte zur Forderung nach Gleichheit des Besitzes, Gleichheit der Geschlechter, Gleichheit von Inländern und Ausländern, Gleichheit von Dummen und Klugen. Aber während Rechtsgleichheit im Prinzip durchsetzbar ist und einem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden entspricht, muß jede andere Gleichheitsforderung immer wieder und immer aufs neue gegen die Natur der Dinge erzwungen werden.
Das heißt, der „Gleichheitsstaat“ (Walter Leisner) muß Einrichtungen schaffen, die nicht nur die materiale, die „soziale“ Gleichheit kontrollieren, sondern auch die Gesinnung derjenigen, denen die offensichtliche Ungleichheit bewußt werden könnte, und er muß sich außerdem mit finanziellen und Zwangsmitteln rüsten, um die immer aufs neue entstehende Differenz zu kompensieren. Das setzt selbstverständlich voraus, daß die Gleichmacher, die die Maßstäbe festlegen und die Maßnahmen ergreifen, trotz des Gleichheitsgrundsatzes gleicher sind als die übrigen und die Egalisierung als das Fundament ihrer Herrschaft mit Zehen und Klauen verteidigen.
JF 9/13