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„Warum nicht ein Tribunal von Dresden?“

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Herr Dr. Schumacher, der führende deutsche Fachmann auf dem Gebiet der Luftkriegsforschung, der Historiker Horst Boog, lobt Ihr neues Buch „Die Zerstörung der deutschen Städte im Luftkrieg“ in dieser Zeitung (siehe Rezension Seite 20) als „mutig“ und stellt fest, daß es „den Bombenkrieg gegen Deutschland erstmals einer umfassenden völkerrechtlichen Sicht unterwirft“. Eine erstaunlicher Erfolg, denn von Haus aus sind Sie kein Völkerrechtler. Schumacher: Als ich mit meinen Recherchen begann, war ich selbst erstaunt festzustellen, daß kaum jemand vor mir dieses Feld beackert hat. Ich hatte angenommen, daß es dazu mindestens ein halbes Dutzend Arbeiten gäbe. Fehlanzeige! Woran liegt das? Schumacher: Offensichtlich besteht unter den Völkerrechtlern in Deutschland wenig Interesse daran. Der westalliierte Luftkrieg ist seit 1945 aus Rücksicht auf unsere Verbündeten tabuisiert. Altbundespräsident Roman Herzog, so mutmaßen Sie im Vorwort, würde Ihr Buch gleich wieder zuklappen. Schumacher: Ich spiele dabei auf seine Äußerung an, es habe „keinen Sinn, darüber zu richten, ob der Bombenkrieg, an dessen Unmenschlichkeit ohnehin niemand zweifelt, im juristischen Sinne rechtmäßig gewesen ist oder nicht … Was bringt uns das?“ Solch eine Aussage aus dem Munde des ehemaligen höchsten Repräsentanten des deutschen Volkes … das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen! – Ganz abgesehen davon, daß Roman Herzog ein renommierter Staatsrechtslehrer ist. Es befremdet mich, daß gerade er Rechtsfragen von so elementarer Bedeutung als belanglos hinstellt. Gut, aber dennoch: Was bringt uns das – heute im Jahr 2009? Schumacher: Das jüngste Beispiel für die Aktualität dieser Fragen ist kaum drei Wochen alt: Weltweit regte sich Empörung, als ruchbar wurde, daß Israel möglicherweise Phosphorbomben in Gaza eingesetzt hat. Oder denken Sie an Afghanistan, wo sogar die US-freundliche Regierung Karzai die zahlreichen Ziviltoten durch westliche Luftangriffe beklagt. Der Luftkrieg ist seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg das wichtigste strategisch-imperiale Instrument erst der Briten, dann der Amerikaner. Ich will damit nicht sagen, daß alle strategischen Luftangriffe der USA oder Großbritanniens seit 1945 völkerrechtswidrig waren. Allerdings wird der Luftkrieg insgesamt als nicht so problematisch eingestuft, wie das eigentlich geschehen sollte. Wenn aber nicht einmal die Opfer, während des Zweiten Weltkriegs vor allem wir Deutsche, solche Fragen aufwerfen, dann lernen Militärs und Politiker weltweit daraus, daß es sich um „Kavaliersdelikte“ handelt. Insofern ist die nonchalante Bemerkung des Altbundespräsidenten schon ein dicker Hund. Ist es etwa nur eine rhetorische Frage, wie viele weitere Bombenopfer die Bereitschaft der bundesdeutschen Eliten, dieses Thema zu beschweigen, bis heute weltweit gekostet hat? Dessenungeachtet kommt in der Äußerung Roman Herzogs natürlich zum Ausdruck, daß er unter das Thema gerne einen Schlußstrich ziehen würde – und da wären wir bei der zeitlos aktuellen Frage nach dem Umgang der Deutschen mit sich selbst. Sie haben sich auch diesem Thema in Ihrem Buch gewidmet. Schumacher: Ja, denken Sie etwa nur an die aktuellen Vorwürfe gegen den Papst wegen der absurden Äußerungen Bischof Williamsons. Als andererseits 2005 der Pfarrer ausgerechnet der Frauenkirche, Stephan Fritz, mit dem Satz: „Dresden war keine unschuldige Stadt, sondern eine Nazi-Stadt wie alle anderen“, deren Vernichtung rechtfertigte, erhob sich dagegen kein Wort der Entrüstung! Trotz des großartigen Buches „Der Brand“ von Jörg Friedrich vor sieben Jahren unterliegt das Thema also weiterhin einem Tabu. „Der Brand“ war ein Bestseller, deshalb kam man um die Auseinandersetzung mit ihm nicht ganz herum. Seitdem allerdings mehren sich wieder die Versuche, „den Deckel zuzumachen“. Daher ist jeder luftkriegsethische und -völkerrechtliche Ansatz ein neuerliches Kratzen am Tabu und ein Infragestellen jenes geschichtspolitischen Konsenses, auf den die etablierten Kräfte bei uns in Deutschland sich mehr oder weniger stillschweigend verständigt haben. Das Neue an Ihrem Buch ist, daß Sie die Haager Landkriegsordnung auf den strategischen Bombenkrieg anwenden. Warum ist das so spektakulär? Schumacher: Zunächst muß man wissen: Die Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907 ist die Grundlage für unser modernes Kriegsvölkerrecht. Das Problem ist aber: Als sie verabschiedet wurde, gab es noch keinen Luftkrieg, daher regelt sie diesen Bereich nicht explizit. Folglich hielt eine überwältigende Mehrheit von Juristen, Politikern und Militärs die HLKO hier nicht für anwendbar – freilich ohne sich im Detail mit ihren Auslegungsmöglichkeiten zu befassen. Statt dessen versuchte man nach 1945, Luftangriffe auf zivile Ziele unter Hinweis auf ein ungeschriebenes Völkergewohnheitsrecht als verboten darzustellen. Das blieb allerdings eine uneindeutige Angelegenheit. Ich habe die HLKO genauer unter die Lupe genommen und komme zu dem Schluß, daß man sie unmittelbar auf den strategischen Luftkrieg anwenden kann. Speziell die Artikel 23 b und g, 25 und 27 verbieten Flächenangriffe auf zivile Ziele, also das sogenannte Area Bombing oder Morale Bombing. Diesen völkerrechtlichen Ansatz hat es, konsequent durchdekliniert, bisher nicht gegeben. Vielleicht zu Recht – denn immerhin wenden Sie Recht auf einen Tatbestand an, den es zum Zeitpunkt von dessen Kodifizierung noch nicht gegeben hat. Schumacher: Das stimmt, aber da ist die hohe Kunst der juristischen Argumentations- und Methodenlehre gefordert: Es gilt, nach dem Geist eines Regelwerks zu fragen und diesem auch in einer veränderten Lebenswirklichkeit Geltung zu verschaffen. Man sagt: „Das Gesetz ist klüger als der Gesetzgeber.“ Soll heißen, üblicherweise hat der Gesetzgeber nicht jeden einzelnen denkbaren Anwendungsfall, sondern nur eine mehr oder weniger verschwommene Menge typischer Anwendungsfälle im Auge. Denn er kann unmöglich alle Facetten und Veränderungen einer gesellschaftlich und technisch komplexen Welt voraussehen. Deshalb ist es nichts Ungewöhnliches, wenn ein neuartiger Anwendungsfall sich erst Jahre nach der Verabschiedung eines Gesetzes ergibt. Dann gilt es, einzelne Vorschriften des Gesetzes über ihren Wortlaut hinaus, beispielsweise nach dem Sinn und Zweck des Regelwerks, auszulegen und anzuwenden. Neue Technologien schaffen neue Kriegsspielregeln: Ist Ihre Methode, älteres Recht mit neuen Techniken zu konfrontieren, nicht ein Anachronismus? Schumacher: Die 1977 beschlossenen Zusatzabkommen zur Genfer Konvention von 1949, die sich dem Luftkrieg widmen, bestätigen den ethischen Gehalt der HLKO. Das heißt, man hält die Artikel 23 b und g, 25 und 27 der HLKO mehr denn je für gerechtfertigt. Man kann also nicht argumentieren, der zivilschutzrechtliche Gehalt der HLKO sei angesichts neuer Waffentechnologien bereits im Zweiten Weltkrieg überholt gewesen. Das Kriegsrecht kennt das Rechtsinstitut der „Repressalie“, der an sich verbotenen militärischen Maßnahme, um den zuvor gegen das Kriegsrecht verstoßenden Feind zur Mäßigung zu zwingen. Kann – zur Entlastung der Alliierten – das Area Bombing nicht als eine solche gedeutet werden? Schumacher: Dagegen sprechen gleich zwei Gründe. Erstens kann man die bewußte und gewollte Tötung vieler tausend Zivilisten aufgrund ihres barbarischen Charakters von vornherein nicht als legitime Repressalie anerkennen. Tut man es dennoch, müßten hier zweitens die anerkannten tatbestandlichen Voraussetzungen einer Repressalie erfüllt sein, etwa die Wahrung der Verhältnismäßigkeit von Mittel und Zweck sowie die eindeutige Erkennbarkeit, auf welchen vorhergehenden deutschen Kriegsrechtsverstoß sich der betreffende westalliierte Luftschlag beziehen soll. Einer solchen Kriterienprüfung halten britische Flächenangriffe nicht stand. Konsequenterweise hat die Royal Air Force sich nie auf diesen Rechtfertigungsgrund berufen. Würden die alliierten Flächenangriffe als Kriegsverbrechen erkannt, müßte die Bundesregierung dann prüfen, ob heute noch Verantwortliche leben, und auf deren Auslieferung bestehen, zumindest auf deren Überstellung nach Den Haag? Schumacher: Ihre Frage zielt darauf ab, ob 1939 bis 1945 völkerstrafrechtliche Verbote des Area Bombing gegolten haben. Abwegig ist das keineswegs. Kaum jemand bekannte sich bis zum Zweiten Weltkrieg zur Existenz oder Schaffung konkreter Straftatbestände, durch die beispielsweise Humanitätsverbrechen wie der Judenmord hätten geahndet werden können. Dennoch konstituierte sich 1945 kurzfristig der Internationale Gerichtshof zur Bestrafung maßgebender NS-Verbrecher – aus im Kern überzeugenden völkerrechtlichen Gründen. Also, ich würde der Bundesregierung ein solches Vorgehen empfehlen. In Ihrem Buch sprechen Sie von der Einrichtung eines „Dresden-Tribunals“. Schumacher: Ja, ich widme mich in einem eigenen Kapitel der Frage: „War Churchill ein Kriegsverbrecher?“ Ein „Dresden-Tribunal“ wäre in der Konsequenz eine Ergänzung des Nürnberger Tribunals gewesen. Praktisch ist es für ein solches Tribunal natürlich zu spät, da alle Hauptverantwortlichen längst tot sind. Aber was wäre gewesen, wenn? Drei Szenarien sind möglich: Erstens, das Tribunal hätte die Relevanz der HLKO in dieser Frage verkannt und sich auch nicht zur Anerkennung von ungeschriebenem Luftkriegsgewohnheitsrecht durchgerungen: Winston Churchill und der verantwortliche Luftmarschall Arthur Harris wären freigesprochen worden. Zweitens, das Tribunal hätte die Relevanz der HLKO zwar unterstellt, sich aber gleichzeitig zu einem gewohnheitsrechtlichen „rechtfertigenden Notstand“ bekannt. Das entspricht in etwa der Auffassung, die heute in Großbritannien vorherrschen dürfte: Zur Niederwerfung Hitler-Deutschlands waren alle Mittel erlaubt, selbst der „nächtliche Massenmord“ (Golo Mann) in unseren Städten. Churchill und Harris wären auch bei dieser Sichtweise freigesprochen worden. Drittens, das Tribunal hätte sich streng an die HLKO und die in sie eingebundenen Zivilschutzprinzipien der philosophischen Aufklärung gehalten: Churchill und Harris wären als Kriegsverbrecher verurteilt worden! Fragt sich nur: Wären sie dann auch gemeinsam mit Keitel, Kaltenbrunner und Jodl gehängt worden? Könnte Deutschland heute Entschädigung verlangen? Schumacher: Im Grunde ja. Allerdings gibt es markante Probleme: Kann und will die Bundesrepublik Deutschland einen solchen Anspruch rechtlich begründen und faktisch durchsetzen? Angenommen, Berlin würde das ernsthaft wollen, dann würden die ehemaligen Westalliierten wahrscheinlich auf Verjährung sowie einen „stillschweigenden Forderungsverzicht“ seitens der Bundesrepublik pochen. Tatsächlich kann das jahrzehntelange Unterlassen der Geltendmachung einer Forderung zu ihrem Untergang führen. Umgekehrt sind wir dadurch allerdings gegen alliierte Reparationsforderungen gefeit, da auch wir während des Luftkriegs in London und anderen englischen Städten schlimme Schäden angerichtet haben. Was wird Ihre bahnbrechende Interpretation tatsächlich bewirken – juristisch und politisch? Schumacher: Das ist schwer einzuschätzen und sollte nur in langfristiger Perspektive betrachtet werden. Die Bastionen der Political Correctness sind nicht leicht zu erobern. Aber ich plane auch keinen „Sturmangriff“, sondern eine streng sachliche, argumentgeleitete Auseinandersetzung. Erste Reaktionen meiner Leser deuten darauf hin, daß plausible, ausgewogene Geschichtsdeutungen einem vitalen, weitverbreiteten Bedürfnis entsprechen.   Dr. Björn Schumacher studierte Rechtswissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte in Bochum und Göttingen. Seit 2000 schreibt er, Jahrgang 1952, gelegentlich für die junge freiheit. Sein Buch „Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg. ‘Morale Bombing’ im Visier von Völkerrecht, Moral und Erinnerungskultur“ (Ares, 2008) gilt in Fachkreisen als bemerkenswerte und bahnbrechende Studie auf dem bislang verwaisten Gebiet einer völkerrechtlichen Durchleuchtung des alliierten Bombenkriegs gegen Deutschland. Mit seinem monographischen Debüt ist ihm nach jahrelanger intensiver Beschäftigung mit der Materie ein großer Wurf gelungen. Sein Buch zeigt die völkerrechtlichen wie ethischen Dimensionen des „Morale Bombing“ auf, diskutiert die fortgeltenden angelsächsischen Legitimierungsmuster genauso wie die meist peinliche bundesdeutsche „Erinnerungskultur“, die mit den Bombenkriegsopfern wenig anzufangen weiß. Nach den großen militärhistorischen Darstellungen Horst Boogs und der epischen Vergegenwärtigung Jörg Friedrichs („Der Brand“) liegt hiermit eines der raren Standardwerke zu einem deutschen Tabu-Thema vor.

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