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„Die Demokratie ist im Verfall“

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„Die Demokratie ist im Verfall“

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Herr Professor Crouch, der Westen hat die Demokratie so weit fortentwickelt, daß wir sie inzwischen als Exportgut betrachten – siehe Irak und Afghanistan. Was also haben Sie an unserer Demokratie auszusetzen? Crouch: Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß der Westen zu einem Kreuzzug für die Demokratie in der ganzen Welt antritt, während sie hier bei uns zu Hause inzwischen schadhaft ist. Ihr Bändchen „Postdemokratie“ hat „in Großbritannien und Italien zu Debatten über Politikverdrossenheit, Sozialabbau und Privatisierung geführt“, wie die „Welt“ schreibt, und Sie zu einem Wortführer der einschlägigen Diskussion gemacht, die sich in Deutschland allerdings schwertut, über die Fachkreise hinauszukommen. Immerhin empfiehlt der bekannte Soziologe Claus Leggewie Ihre „emphatische Zeitdiagnose“, wie der Deutschlandfunk das Buch nennt, wärmstens der SPD-Führung zur Lektüre. Der Historiker Rudolf Walther sieht in ihr gar einen „Abschied von der Demokratie“. Und Sie selbst sprechen im „Spiegel“ und der „Zeit“ von deren „Versagen“. Ist das Ende der Demokratie gekommen? Crouch: Nein, ich sage ganz klar, so weit ist es noch nicht. Denn natürlich sind unsere demokratischen Einrichtungen etwa im Vergleich zu Rußland oder China noch weitgehend funktionstüchtig. Aber ich warne: Auf jeden Fall sind wir auf dem Weg dorthin. Was also verstehen Sie unter Postdemokratie? Crouch: Postdemokratie meint einen Zustand, in dem die Institutionen der Demokratie noch funktionieren, aber die Demokratie keine Vitalität mehr hat. Ich benutze den Begriff so wie den der postindustriellen Gesellschaft. Postindustrielle Gesellschaft bedeutet auch nicht, daß es dort keine Industrie mehr gibt, sondern daß das Herz der Wirtschaft, ihr Leistungszentrum, anderswo als bei der Industrie liegt. Ist die Postdemokratie also noch Demokratie? Crouch: Ja, denn Postdemokratie bedeutet nicht „Nichtdemokratie“. Sondern beschreibt eine Periode des Verfalls, einen Zustand, in dem die Lebensenergie der Demokratie schwindet. Zwar werden noch Wahlen abgehalten, die auch dazu führen, daß Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, doch wird die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark von konkurrierenden Teams professioneller PR-Berater kontrolliert, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten. Nicht das Volk, sondern Oligarchien entscheiden: Liest man Ihren Text, hat man den Eindruck, wir sind wieder im 19. Jahrhundert angelangt. Crouch: Ja, auf diese Idee könnte man kommen. Vermutlich war das 20. Jahrhundert – zumindest dessen Mitte – etwas Besonderes: Ich meine die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als es für einen historischen Moment eine wirkliche Demokratie gab. Ich vermute, daß die Demokratie stets nach Krisen am lebendigsten ist. Offenbar sind die Menschen dann eben besonders bereit, den öffentlichen Belangen ihres Gemeinwesens besondere Aufmerksamkeit zu widmen. In Deutschland ist genau die gegenteilige Meinung verbreitet: Die fünfziger Jahre, die „Adenauer-Zeit“, gelten vielen als „restaurativ“; das Land sei erst durch die 1998 schließlich an die Macht gekommenen Achtundsechziger demokratisiert worden. Crouch: Nun gut, in Deutschland mußte zuerst die furchtbare Krise der Hitler-Zeit überwunden werden, und daher waren die fünfziger Jahre in Ihrem Land leise Jahre, man wünschte vor allem Sicherheit und wieder etwas bescheidenen Wohlstand. Aber ich würde beide Jahrzehnte, die fünfziger und die sechziger Jahre, doch zum Höhepunkt der Demokratie im 20. Jahrhundert rechnen. Unsere Gegenwart ist das Ergebnis der Umwälzung von 1968. Also wurzelt der von Ihnen diagnostizierte postdemokratische Verfall in der Kulturrevolution der Linken? Crouch: Das ist kompliziert, denn es gibt ein doppeltes Erbe von 1968. Auf der einen Seite sind da die großen gesellschaftlichen Veränderungen: etwa mehr Offenheit, weniger Autorität, und viele dieser positiven Entwicklungen haben sich bis heute fortgesetzt. So leben wir also gegenwärtig in einer offeneren Welt als zu der Zeit, die ich als den Höhepunkt der Demokratie bezeichne. Das muß man akzeptieren. Aber es gab auch die Reaktion auf 1968: etwa auf dem Arbeitsmarkt, gegen die Macht der Gewerkschaften, gegen die Sozialpolitik, die von 1968 inspiriert war, und man kann auch den heutigen Trend zum Neoliberalismus, die moralischen Werte des Thatcherismus und der Reaganomics, als Teil dieser Gegenbewegung verstehen. Das beantwortet aber noch nicht die Frage. Crouch: Ich komme jetzt dazu: Der springende Punkt ist, daß sich erstaunlicherweise gerade diese Gegenbewegung mit einem Teil des zuvor beschriebenen positiven Erbes von 1968 verbunden hat. Etwa indem sie die Befreiung von den Autoritäten in einen Ruf nach mehr Markt und weniger Aufsicht durch den Sozialstaat verwandelt hat. Oder indem sie das Verlangen nach gesellschaftlicher Offenheit und Transparenz in die Forderung nach offenen Märkten und unbegrenztem Handel ummünzt. Auf diese seltsame Weise ist 1968 zu einem der Väter des Neoliberalismus von heute geworden. Und mit dem Neoliberalismus hängt auch die postdemokratische Schwächung der Demokratie zusammen, denn dieser zielt darauf ab, die Beantwortung und Regulierung von immer mehr gesellschaftlichen Fragen aus dem Bereich der Demokratie hinein in den Bereich des freien Marktes zu verschieben. Vielleicht irren Sie, und das von Ihnen zitierte positive Erbe von 1968 wurde nicht gekapert, sondern hat aus sich selbst heraus ganz folgerichtig zu dieser Entwicklung geführt? Crouch: Ich will Ihnen zwei Gegenbeispiele nennen, die zeigen, daß das Erbe von 1968 auch zu rein positiven Entwicklungen führen konnte, die sogar meiner Theorie vom postdemokratischen Niedergang in gewisser Weise widersprechen. Nämlich der Feminismus und die Umweltbewegung. Vor allem der erstere, der wie eine Bombe plötzlich auf der politischen Bühne explodierte, erwischte die politische Klasse völlig unvorbereitet. Der Punkt ist, daß beide Bewegungen außerhalb der politischen Klasse formuliert wurden und doch zu erheblichem politischem Einfluß gelangten. Damit sind sie Beispiele für eine funktionierende Bürgerdemokratie, die allein den Verfall der Postdemokratie aufhalten könnte. Trotz dieser Gegenbeispiele sehen Sie das postdemokratische Problem maßgeblich von der Linken verursacht. Welche Rolle spielt demzufolge die Rechte? Ist sie ergo die volksdemokratische Opposition zum postdemokratischen Establishment? Crouch: Nein, ganz und gar nicht. Das ist ein völliger Fehlschluß. Nun gut, ich gebe zu, außer dem Feminismus und der Umweltbewegung gibt es in der Tat noch einen dritten Fall erfolgreicher Bürgerbewegungen: die Bewegung der rassistischen Populisten. Auch sie kommt von außerhalb des Establishment, und auch sie hat die etablierte Klasse erschüttert. Nun, manchmal kann Politik eben leider auch sehr häßlich sein. Denn zweifellos gehört der Rassismus zu den beängstigendsten Phänomenen in unserer Gesellschaft, und deshalb müssen wir Wege finden, ihn zu bekämpfen. Berücksichtigt man die Meinungsumfragen, so hat die Politik der Etablierten etwa in den Bereichen Einwanderung, Globalisierung oder Ausweitung und Vertiefung der EU oft keine Mehrheit im Volk. Die einzigen, die hier mehrheitsfähige Positionen zu formulieren scheinen, sind die Rechten. Warum betrachten Sie also – gemäß Ihrer Theorie – die Rechten nicht als den Ausdruck der Stimme des Volkes? Crouch: Sie sprechen in der Tat ein erhebliches Problem ab. Denn etwa in der Frage der Globalisierung ist es tatsächlich nur die extreme Rechte, die eine eigene Sprache für das Problem gefunden hat: Nur sie formuliert eine klare Ablehnung. Bei allen anderen läuft es mehr oder weniger letztlich darauf hinaus, die Globalisierung zu akzeptieren. Dabei ist die Globalisierung in vieler Hinsicht tatsächlich inakzeptabel. Diese Situation ist sehr gefährlich. Und richtig ist auch, daß Einwanderung keine einfache Sache ist. Wenn Einwanderer in großer Zahl kommen, können in der Tat erhebliche Probleme entstehen. Allerdings ist es ebenso möglich, daß Einwanderung am Ende erfolgreich verläuft und Zuwanderer und Einheimische schließlich gut miteinander leben. Für beides gibt es Beispiele. Aber dennoch bleibt die Frage, wie Sie der Rechten, solange sie nun einmal die Meinung zahlreicher Bürger vertritt, eine demokratische Legitimation absprechen, ohne Ihre eigene Theorie zu verletzen. Crouch: Die Antwort auf die Krise der Postdemokratie kann nicht die extreme Rechte sein, sondern eine neue sozialliberale Politik. So ist zum Beispiel Ausländerfeindlichkeit keineswegs immer die populäre Option. Und es gibt andere politische Gruppen, die man wählen kann. Zu Zeiten des postdemokratischen Zerfalls des neoliberalen Modells sollte es schließlich um so einfacher sein, eine neue Mitte-Links-Politik zu machen. Also: Wie sieht der Ausweg aus der Krise aus? Crouch: Stärkung der Zivilgesellschaft, neue soziale Bewegungen, Mobilisierung des Bürgersinns in öffentlichen Kampagnen gegen die Mißstände! Zur Krise gehört auch, daß die etablierten Parteien allesamt zu ängstlich geworden sind, um die beherzte Politik zu machen, die notwendig wäre, um auf die Krise zu antworten. Denn sie alle fürchten den Druck der Unternehmen, die mit der Drohung, Standorte zu schließen und abzuwandern, ganze Staaten gegeneinander ausspielen können. Deshalb müssen neue linke, soziale, zivilgesellschaftliche Bewegungen diese Politik laut und vernehmlich fordern und vormachen. Denn wenn solche Bewegungen diese Fragen mit Macht in die Gesellschaft tragen und die Öffentlichkeit damit zwingen, sie zu diskutieren, dann muß auch die Politik darauf reagieren. Und mit einem solchen Rückenwind kann sie diese auch gegen die neoliberale Seite durchsetzen. Ursache für die Ängstlichkeit, von der Sie sprechen, dürfte auch die Political Correctness sein. Ist sie Teil der postdemokratischen Krise? Crouch: Political Correctness ist ein eigenes Problem, da sie sozusagen eine Politik ohne Politik ist. Denn wenn man einer Sache nur einen neuen Namen gibt, verändert man noch lange nicht ihr Wesen. Political Correctness ist wichtig, wenn sie eine Form des guten Benehmens ist, etwa wenn es darum geht, einen anderen nicht aufgrund seiner ethnischen Herkunft zu beleidigen. Aber wenn es um gesellschaftliche Verhältnisse geht, dann ist deren Offenlegung und nicht deren Verschleierung die Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt. Politiker verstecken sich hinter der Political Correctness und verlieren dadurch den Kontakt zu den Bürgern. Schließlich steht sie wie eine unsichtbare Mauer zwischen beiden. Und auch sie ist ein Erbe von 1968. Crouch: Das stimmt, und man muß zugeben, daß es sich beim Problem der Political Correctness um eine deformierte linke Politik handelt. Nicht zuletzt stellt sie überdies sogar ein Einfallstor für die extreme Rechte dar, denn diese nutzt den Vorteil, eine deutliche Sprache zu sprechen. Sie nutzen damit die Gelegenheit, sich in Kontrast zum gemäßigten, politisch korrekten Establishment als die einzige politische Kraft darzustellen, die klare, unmißverständliche und kraftvolle politische Forderungen formuliert. Das ist ein sehr, sehr großes Problem. Vor allem für die Linke, denn sie wünscht sich ja ebenfalls Politiker, die eine klare Sprache sprechen – allerdings bezüglich des gesellschaftlichen Mißbrauchs durch die Privilegierten. Die populistische Rechte dagegen benutzt eine klare Sprache bezüglich des gesellschaftlichen Mißbrauchs durch die Unterprivilegierten. Es ist so leicht, die Schuld für alle große Probleme auf die Schultern machtloser Gruppen zu laden, doch das löst diese nicht. Man muß die Kritik gegen jene Institutionen richten, die unsere Probleme verursachen. Oft ist das schwierig zu erklären – aber gegenwärtig, wenn die größte Einrichtung des Neoliberalismus, der anglo-amerikanische Finanzkapitalismus, so offensichtlich uns allen dauerhaft schadet, sollte es viel leichter sein, eine linksorientierte Kritik zu entwickeln. Was, wenn sich doch das neoliberale System – oder eben die Rechte – durchsetzt? Wohin führt die Postdemokratie unsere Gesellschaft letztlich? Crouch: Es gibt kein „letztlich“ in der Geschichte. Man kann immer voraussagen, daß sich gegenwärtige Tendenzen fortsetzen werden – doch ist das am Ende fast immer falsch. Denn normalerweise provozieren diese Tendenzen Reaktionen, die dazu führen können, sie zu beenden. Wer also Anti-Utopien wie etwa mein Büchlein schreibt, der hofft immer, daß er damit hilft, solche Reaktionen hervorzurufen und seine eigene Voraussagen damit Lügen zu strafen.   Prof. Dr. Colin Crouch ist „der Mann, der die europäische Demokratiedebatte mit dem Begriff ‘Postdemokratie’ aufgeladen hat“ (Die Zeit). Sein Essay „Postdemokratie“ (Suhrkamp Verlag), „eine der meistbeachteten politischen Schriften der vergangenen Jahre“ (Der Spiegel), erschien in England bereits 2004. Nun liegt sie auch auf deutsch vor (JF 50/08). Crouch, Jahrgang 1944, lehrt Sozialwissenschaften an der Universität von Warwick in Coventry. Postdemokratie: „Es ist berechtigt, von einem Epochenwechsel zu sprechen“, so der Münchner Politologe Frank Pilz. „Postdemokratie“ beschreibt nicht das Ende, aber den Verfall unserer Demokratie: etwa in Gestalt der Erfahrung, daß die Politik sich nicht ändere, gleich welche Regierung man wähle. Der Einfluß der Bürger tendiere künftig gegen Null. Doch kann die Demokratie überleben, wenn die Legitimation der Politik erodiert? Die Postdemokratie-These prognostiziert: Unser politisches System gerät künftig in eine tiefe Krise.

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