Herr Professor von Arnim, mit ihrer EU-Kritik konnten etliche Rechtsparteien am Sonntag ein erhebliches Plus verzeichnen. In Deutschland blieb dieser Effekt allerdings aus. Warum?
Arnim: Zum einen ist die Stimmung bei uns – noch – nicht so EU-kritisch wie in anderen Ländern. Zum anderen haben andere, die CSU, die Linken, aber auch viele kleine Parteien, einen Teil der EU-Kritik aufgenommen. Zum dritten erscheinen bestimmte Rechtsparteien bei uns als nicht wählbar.
Mancher hat auf die Freien Wähler gehofft – vergeblich.
Arnim: Die Freien Wähler hatten große Probleme, man denke an das Ausscheren Baden-Württembergs oder die Zeitnot und die knappen Mittel für den Wahlkampf. Unterm Strich bleibt jedoch, daß sie es mit 1,7 Prozent einfach nicht vermocht haben, Nicht- bzw. Protestwähler für sich zu mobilisieren. Ich nehme an, daß sie nun von ihren Plänen für die Bundestagswahl Abstand nehmen werden.
Die CDU dagegen triumphierte am Sonntag Abend. Zu Recht?
Arnim: Nein, sie hat mit minus 5,9 Prozent sogar am meisten verloren. Hier zeigt sich das ungebremste Abbröckeln des Vertrauens in die Volksparteien, denn ihr Niedergang ist ja noch viel dramatischer: Tatsächlich hat die SPD nur neun, die Union nur 16 Prozent der Wahlberechtigten für sich gewinnen können.
Alles nur eine Folge der für Europawahlen typisch niedrigen Wahlbeteiligung, wie sich CDU und SPD am Sonntagabend entschuldigt haben?
Arnim: Grund auch dafür ist doch die Behandlung der Wähler durch die Etablierten: Der Bürger hat den Eindruck, bei der Europawahl eh nichts entscheiden zu können. Wer von uns weiß schon, was seine Stimme in Brüssel wirklich bewirkt?
„Eine Anfechtung der Europawahl hätte Aussicht auf Erfolg“
Dem will Ronald Pofalla jetzt entgegenwirken und dem Bürger deutlicher machen, daß achtzig Prozent der Entscheidungen in der EU fallen.
Arnim: Auch wenn das Parlament heute mehr zu entscheiden hat als früher, verwischt diese Argumentation, daß das Schwergewicht in der EU gar nicht beim Parlament, sondern beim Ministerrat und der Kommission liegt. Zwar muß das Parlament in den meisten Fragen zustimmen, aber es hat, etwa im Gegensatz zum Bundestag, zum Beispiel nicht einmal das Recht zur Gesetzesinitiative.
Selbst wenn das anders wäre, würde es nichts daran ändern, daß der Wähler nicht das Gefühl hat, mit seiner Stimme etwas bewirken zu können. Angesichts starrer Listen kann er nicht einmal die Kandidaten auswählen! Warum soll er dann noch zur Wahl gehen? Die Argumentation Pofallas geht am eigentlichen Problem vorbei.
Die europäische Wahlbeteiligung ist mit 42,9 Prozent auf ein historisches Tief gefallen.
Arnim: Auch das Europäische Parlament ist eben ein Ort der Abschottung der etablierten Politik vom Bürger. Nehmen Sie nur die Fünf-Prozent-Klausel: Im Europawahlrecht ist sie geradezu aberwitzig. Sie wächst sich zum Beispiel für eine regionale Partei wie die CSU de facto zu einer Vierzig-Prozent-Hürde aus.Tatsächlich braucht eine deutsche Partei, um den Einzug zu schaffen, nun so viele Wählerstimmen, wie die vier EU-Vollmitglieder Zypern, Malta, Estland und Slowenien zusammen haben, um damit 24 Abgeordnete nach Brüssel zu schicken. Dabei gibt es im Straßburger Hohen Haus ohnehin 180 Parteien.
Das Argument, die Fünf-Prozent-Hürde sei nötig, um zu viele Parteien im Parlament zu verhindern, ist eine Schutzbehauptung. Außerdem wird in Straßburg sowieso keine Regierung gewählt, also brauchen wir auch keinen Faktor, der stabile Mehrheiten sicherstellt. Nach meiner Meinung ist die Fünf-Prozent-Hürde im Europaparlament demokratisch nicht haltbar, und deshalb hätte eine Anfechtung der Wahl vom Sonntag durchaus Aussicht auf Erfolg. >>
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In Ihrem neuen Buch „Volksparteien ohne Volk“ sprechen Sie von „EU-Imperialismus“: Schon lange hätten die Bürger nichts mehr mitzureden. Wozu dann überhaupt noch Europawahlen?
Arnim: Das ist eine berechtigte Frage. Denn ob Euro-Einführung, Osterweiterung oder EU-Vertiefung, stets treibt die EU die Dinge über die Köpfe der Bürger hinweg voran. Nehmen Sie nur die EU-Verfassung als Beispiel. Als diese 2008 von den Iren in einem Referendum abgelehnt wurde, war der Aufschrei unter Brüsseler Politikern groß: Eine Million Iren, so ihr Vorwurf, schrieben 490 Millionen anderen Europäern vor, was in Europa zu geschehen habe. Doch bei genauerer Betrachtung kehrt sich das Argument um: Hätten die Bürger in der EU ein demokratisches Wörtchen mitzureden, wäre der Vertrag wohl auch in anderen Ländern gescheitert.
Denn hinter der eine Million Iren stehen in Wahrheit Hunderte Millionen EU-Bürger – ihnen gegenüber stehen dagegen nur einige tausend Berufseuropäer. Dennoch steht die EU-Verfassung – umdeklariert als Lissabon-Vertag – nun doch vor ihrer Durchsetzung. Und Institutionen, die die Subsidiarität sichern – also den Grundsatz, daß im Zweifel die nationalen Kompetenzen Vorrang haben –, sind nicht in Sicht. Selbst der Europäische Gerichtshof ist Partei und treibt die unbegrenzte Vertiefung sogar noch voran.
Sie nennen den Lissabon-Vertrag in Ihrem Buch eine „Hintergehung der europäischen Völker“.
Arnim: Zum Beispiel weil einer der entscheidenden Punkte, nämlich der künftige Vorrang europäischen Rechts vor nationalem Recht, im Zuge der Umetikettierung zum Lissabon-Vertrag zwar aus dem Vertragswerk gestrichen wurde – aber dafür jetzt in einer Erklärung angefügt ist. Das aber ändert an seiner Verbindlichkeit gar nichts!
Am 30. Juni entscheidet das Bundesverfassungsgericht über den Lissabon-Vertrag. Wieviel Vertrauen haben Sie, daß die Entscheidung eine unabhängige und nicht eine politische ist?
Arnim: Ich kann mir nicht vorstellen, daß das Gericht gegen den Lissabon-Vertrag entscheiden wird. Es wird allenfalls – wie im Falle Maastricht – einige Änderungen verlangen.
„Die Bundestagswahl steht auf verfassungswidriger Grundlage“
Also eine Mogellösung: den Schein wahren, tatsächlich aber der Politik nachgeben?
Arnim: Das Wort „Mogellösung“ würde ich nicht gebrauchen.
Warum nicht?
Arnim: Es ist schwer, jetzt schon ein Urteil beurteilen zu wollen, das noch gar nicht gefällt ist. Das halte ich nicht für sinnvoll.
In Ihrem Buch stellen Sie dar, wie das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit eindeutig politische Urteile gefällt hat.
Arnim: Die Verfassungsrichter werden bekanntlich von den etablierten Bundestagsparteien bestimmt, und wenn es ans Eingemachte geht, dann ist es nicht selten, daß dort nach Parteipräferenz abgestimmt wird. Sehr deutlich wurde das etwa im Juni 2008 beim Staatsgerichtshof in Hessen, als es um die Frage von Studiengebühren ging.
Die von CDU und FDP bestellten Verfassungsrichter bestätigten deren Verfassungsmäßigkeit und die von SPD und Grünen deren Verfassungswidrigkeit. Die Abstimmung verlief klar entlang der politischen Interessenlage. Das ist zum Glück nicht immer so, aber auch nicht selten, wenn es um politisch entscheidende Fragen geht.
Spektakulär ist Ihre Darstellung, die Bundestagswahl werde auf verfassungswidriger Grundlage stattfinden – mit Segen des Gerichts!
Arnim: Nicht mit dem Segen des Gerichts, aber Karlsruhe läßt es zu. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungswidrigkeit des sogenannten negativen Stimmrechts schon im Juli 2008 festgestellt: In bestimmten Situationen führen mehr Stimmen für eine Partei dazu, daß sie weniger Mandate erhält. Dem Gesetzgeber hat es für die Behebung des Mangels eine Frist bis 2011 gelassen statt zum Beispiel bis April 2009, dann wäre die Korrektur noch vor der Bundestagswahl erfolgt. >>
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Sie schreiben von einem „schlechten Gewissen des Gerichts“. Legt das nicht Kumpanei mit den Parteien nahe, die die Nutznießer der bestehenden verfassungswidrigen Regelung sind?
Arnim: In der Tat hätte das Gericht das Problem sogar schon vor zwölf Jahren bereinigen müssen. Auch damals war das negative Stimmrecht gerügt worden. Und die Verfassungswidrigkeit der Überhangmandate hat man nur deshalb nicht festgestellt, weil es zu einem Vier-zu-Vier-Patt im Senat kam – die von den Regierungsparteien bestellten vier Richter weigerten sich, die Verfassungswidrigkeit festzustellen. Hintergrund: Bei der Bundestagswahl 1994 kamen die Überhangmandate der Union zugute und stabilisierten die ganz knappe Mehrheit der CDU/FDP-Koalition.
Dennoch hätte die Politik alles bis zur Bundestagswahl am 27. September korrigieren können. Aber der Bundestag hat das einfach ignoriert.
Arnim: CDU und FDP wollen das Wahlrecht nicht vorher ändern, vermutlich auch um den Vorteil, der für sie in dieser Verfassungswidrigkeit liegen könnte, für die beabsichtigte Koalition zu nutzen.
Das heißt, sie kalkulieren ganz offen auf diese Verfassungswidrigkeit?
Arnim: Für den Fall, daß es eng wird, könnten die materiell verfassungswidrigen Auswüchse unseres Wahlrechts tatsächlich zu ihren Gunsten ausschlagen.
Sprich, falls die Wahl knapp gegen sie ausgeht, wollen sie aus einer Abwahl einen Sieg machen? Droht uns am 27. September also vielleicht ein Putsch gegen den Willen des Wählers?
Arnim: Falls die Wahl knapp ausgeht, könnten eigentlich verfassungswidrige Überhangmandate über die Mehrheit im Plenum entscheiden, die von der Mehrheit der tatsächlich abgegebenen Zweitstimmen abweicht.
„Das machtpolitische Hemd ist oft näher ist als der Rock des Gemeinwohls”
Fazit: Man versucht trotz Abwahl mit Tricks an der Macht zu bleiben – wer so mit dem Grundgesetz umgeht, der muß es natürlich auch nicht mehr abschaffen. Wo ist bei diesem Verhalten noch der Unterschied zur Verfassungsfeindlichkeit von Extremisten?
Arnim: Die wehrhafte Demokratie gegen aggressiven Extremismus ist eine Errungenschaft aus den Erfahrungen von Weimar, die ich begrüße. Ich bedauere allerdings in der Tat, daß das Grundgesetz nicht auch besser gegen die etablierten Parteien geschützt ist, denen das machtpolitische Hemd oft näher ist als der Rock des Gemeinwohls und der Verfassungstreue. Beispiel sind neben dem Wahlrecht die Ämterpatronage und die überzogenen Steuerbegünstigung von Parteispenden.
Ist das noch Demokratie?
Arnim: Das Problem ist, wenn sich die Parteien einig sind – und das sind sie oft in eigenen Belangen –, ist der Wähler entmachtet. Denn wen kann er dann noch per Stimmzettel verantwortlich machen?
Warum werden keine neuen Parteien gewählt?
Arnim: Lassen Sie uns von radikalen Parteien absehen, von denen man ja nicht hoffen kann, daß sie eine größere Rolle spielen. Für alle übrigen ist das Problem, daß die etablierte Politik auch die politische Bildung beherrscht. So werden etwa die Spitzen der Landes- und Bundeszentralen für politische Bildung ebenfalls nach Proporz besetzt. Diese Hegemonie in der politischen Bildung hat natürlich Folgen und erschwert das Aufkommen neuer Kräfte.
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Wenn weder die Wähler noch neue Parteien eine Chance haben, muß man dann nach klassischer Lehre nicht von einer Diktatur sprechen?
Arnim: Sagen wir es so: Das Minimum der Demokratie besteht darin, wie Raimund Popper es formuliert, daß man schlechte Abgeordnete und schlechte Regierungen ohne Blutvergießen wieder loswerden kann. Wir werden oft jedoch nicht einmal Regierungen los, die ihre Mehrheit eingebüßt haben. Als die CDU 2004 in Sachsen ihre Mehrheit verlor, hat sie sich in eine Große Koalition geflüchtet. Als letztes Jahr die CSU ihre absolute Mehrheit verlor, ist auch sie dennoch an der Regierung geblieben.
Oder: Schon vor der Wahl am letzten Sonntag standen Dreiviertel der 99 Abgeordneten fest, die Deutschland nach Straßburg schickt. Bei der SPD zum Beispiel waren die ersten zwanzig Kandidaten der Liste im Grunde schon vor der Wahl gewählt – bevor auch nur ein Bürger sein Kreuzchen gemacht hat! Ich halte diese starren Listen im Grunde für verfassungswidrig, denn sie verhindern, daß die Abgeordneten noch direkt vom Volk gewählt werden können.
Und das gleiche werden wir bei der Bundestagswahl wieder erleben. Die Regierungsbildung dagegen wird zwar wenigstens tatsächlich erst nach der Wahl entschieden, aber auch sie über die Köpfe der Bürger hinweg. Nicht unwahrscheinlich, daß ein Wähler, der am 27. September in der Hoffnung auf Schwarz-Gelb zum Beispiel für die CDU stimmt, weil er die Große Koalition abwählen will, genau diese am Ende gewählt haben wird.
„Volksparteien ohne Volk“ – an sich hört sich diese Formel an wie der programmierte Untergang. Warum passiert das nicht?
Arnim: Eben weil die Etablierten sich vom Volk de facto abgekoppelt haben. Da die Wähler die Abgeordneten nicht auswählen können und keinen entscheidenden Einfluß auf die Bildung der Regierung haben, können sie sie mit dem Stimmzettel eben auch nicht mehr „bestrafen“.
„Regelungen aus in der Weimarer Republik wieder einführen“
Ist der Nichtwähler der neue Homo Politicus Bundesrepublikanensis?
Arnim: Hoffentlich nicht. Nichtwählen bringt die Parteien nicht dazu, über die Probleme nachzudenken. Selbst wenn die Wahlbeteiligung massiv sinkt, hat das keine Konsequenzen: Auch bei einer Beteiligung von, sagen wir, nur noch dreißig Prozent bei der Bundestagswahl bekämen die Parteien nicht einen Sitz weniger im Parlament und nicht einen Cent weniger staatliche Parteienfinanzierung.
Also – was tun?
Arnim: In der Weimarer Republik gab es zum Beispiel eine Regelung, nach der sich die Zahl der Mandate entsprechend der Wahlbeteiligung verhielt: Für 60.000 Stimmen gab es ein Mandat. Bei geringerer Wahlbeteiligung wurde der Reichtstag folglich kleiner. So etwas müßte man wieder einführen. Ebenso eine Koppelung mit der Parteienfinanzierung. Außerdem brauchen wir direktdemokratische Kontrollmechanismen wie in der Schweiz, wo das Volk durch Volksabstimmung immer ein Wörtchen mitsprechen kann.
Spektakuläres Ergebnis: In der Schweiz gibt es keine staatliche Parteienfinanzierung, und auch die Bezahlung der Abgeordneten ist nur mäßig, weil das Volk auch diesbezüglich Verhältnisse wie bei uns verhindert hat. Auch auf anderen Gebieten fördert direkte Demokratie meist gute Resultate – und sie stärkt Bürgersinn, politisches Interesse und Verantwortungsbereitschaft. Meine Überlegungen finden Gott sei Dank auch zunehmend Resonanz, Viele Menschen haben offenbar das Gefühl, daß sich etwas ändern muß. Ich bin zuversichtlich, daß sich langfristig etwas tut, weil ich erlebt habe, wie steter Tropfen den Stein höhlt.
Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim gilt als Deutschlands renommiertester Parteienkritiker. Sein neues Buch „Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Politik“ (Bertelsmann) offenbart, wieviel der Bürger im Superwahljahr 2009 tatsächlich mitzureden hat – fast gar nichts: „Wer Abgeordneter wird, steht vor den Wahlen fest. Der Rest gleicht einem Lotteriespiel. Kein Wunder, daß das Volk den Volksparteien in Scharen davonläuft und selbst an der Demokratie zu zweifeln beginnt.“
Der Autor von Bestsellern wie „Der Staat als Beute“ (Knaur, 1993), „Fetter Bauch regiert nicht gern“ (Kindler, 1997) oder „Das Europa-Komplott“ (Hanser, 2004) war von 1993 bis 1996 Mitglied des Verfassungsgerichtes des Landes Brandenburg und lehrt heute Öffentliches Recht und Verfassungslehre an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, deren Rektor er von 1993 bis 1995 war. Geboren wurde er 1939 in Darmstadt.
JF 25/09