Herr Schacht, vor fünf Jahren löste der fünfzigste Jahrestag des 17. Juni eine Welle von Beschwörungen bei Politikern und Medienleuten aus, sich diesem Erbe künftig stärker verpflichtet zu fühlen. Sehen Sie dieses Versprechen erfüllt?
Schacht: Wo denn? Was ich zur Zeit sehe, sind Sedanfeiern-artige Talkshows, Artikel-Orgien oder Memoiren-Tsunamis, die die angeblichen zivilgesellschaftlichen Errungenschaften der Achtundsechziger-Revolte in Westdeutschland ein weiteres Mal hochjubeln. Die diesbezüglichen Mythen von geradezu nordkoreanischer Realitätsnähe sind inzwischen zu einer Art politisch korrekter Gebetstexte selbst der „Bürgerlichen“ geworden, die heftig dabei sind, mit ihrer Nachbeterei zu versuchen, doch noch dazuzugehören, auch wenn man gar nicht dabeigewesen ist.
Die großen moralisch-sittlichen Revolten des 20. Jahrhunderts wie der 20. Juli 1944 oder der 17. Juni 1953 wurden oder werden dagegen immer kleiner geredet – jedenfalls im öffentlichen Bewußtsein, in der nachlassenden Intensität des jeweiligen Staatsaktes, wo es doch zwingend notwendig wäre, an diesen Tagen die ganze Republik in konzentriertes Schweigen, Gedenken, Reflektieren zu bringen: Es geht doch um Helden der Freiheit, die ihr Leben riskiert und in vielen Fällen auch verloren haben.
„Neidkomplex der 68er gegenüber Ereignissen wie dem 17. Juni“
Warum wird das Deutschland von heute diesem Erbe der Freiheit nicht gerecht?
Schacht: Weil das so umrissene, von der Ideologie der Achtundsechziger kontaminierte westdeutsche Sonderbewußtsein in seinen tiefsten Tiefen einen ebenso totalen wie totalitären Neidkomplex auf alle wirklich emanzipatorischen Ereignisse der deutschen Geschichte entwickelt hat: Man selbst hat ja Freiheit und Rechtsstaat entweder nur eingeräumt bekommen wie nach 1945 – oder aber wie 1968 ein weiteres Mal aufs äußerste bekämpft.
Da war man den Kommunisten und Nazis sozusagen strukturell ähnlich. Max Horkheimer hat in den Jahren der Revolte das analoge Phänomen in den lakonischen Satz gefaßt: „Die Herren auf der äußersten Linken entsprechen den Herrn auf der äußersten Rechten.“ Der Historiker Götz Aly hat jüngst mit seinem aus dem Erinnerungs-Mainstream konsequent ausscherenden Buch „Unser Kampf 1968“ diese fatale Parallele empiriegesättigt und, was den Eigenanteil daran betraf, tief erschrocken bestätigt.
„Geschichtsmanipulationen, die der SED-Diktatur wie Himmelsgeschenke zufielen“
Der 17. Juni, ein weiteres Opfer von 1968?
Schacht: Ja, in den fünfziger Jahren bis weit in die sechziger hinein, hat der von der SPD angeregte und von Herbert Wehner im Bundestag begründete Nationalfeiertag 17. Juni durchaus noch eine große öffentliche Wirkung gehabt, da wehte ja auch noch, wie 1989 in Mitteldeutschland dann wieder, das schwarzrotgoldene Banner landauf, landab. Wobei dann in den Siebzigern im Zuge der beginnenden Entspannungspolitik der politische Wille, dies ungebrochen fortzusetzen, spürbar nachließ und in den Achtzigern dazu führte, daß in pseudowissenschaftlichen Werken der Aufstand der Arbeiter in Mitteldeutschland immer mehr kleingerechnet und runterinterpretiert wurde.
Also, es waren angeblich gar nicht so viele, und es ging eigentlich auch gar nicht um die Einheit, sondern eher um ökonomische Forderungen usw. Nach der Wende wurde das nicht nur alles widerlegt, die Beteiligungs- und Opferzahlen schossen geradezu in die Höhe. Da wurden jedenfalls auf einmal Geschichtsmanipulationen, die der SED-Diktatur wie Himmelsgeschenke zufielen, langsam, aber sicher Bonner Staatspolitik und umgekehrt.
Zum Schluß sollte der 17. Juni als Nationalfeiertag ganz abgeschafft werden, und zynisch bis süffisant las man immer häufiger, die Westdeutschen könnten mit dem Datum ja sowieso nichts mehr anfangen, für sie sei der 17. Juni nur noch ein Badetag. Das war nicht ganz falsch; aber das war auch geheuchelt, denn in genau diese Richtung, die man so verlogen beklagte, wollte man die Sache damals haben.
„Für ein freies, souveränes und nationales Deutschland“
Was war der 17. Juni 1953 überhaupt?
Schacht: Sicher auch ein Votum für den Westen und seine materielle Leistungskraft, aber ebenso für die Einheit Deutschlands und für seine Freiheit, besonders von der Besatzungsherrschaft durch die Sowjetunion, für ein souveränes, unabhängiges, nationales Deutschland, und er war in der Tiefe etwas ganz Elementares: die Kraft von Menschen, die lange materiell getäuscht, politisch gedemütigt und physisch und geistig terrorisiert wurden, bis sich ihre Angst in Mut verwandelte und sie die Herrschenden das Fürchten lehrten. Das ist übrigens eine Kraft, die nie verschwindet.
Heute wird er fast ausschließlich als Aufstand für die „Zivilgesellschaft“ gedeutet. Nationale Einheit, Freiheit und Souveränität spielen in der populären Interpretation keine Rolle.
Schacht: Ein Aufstand für die „Zivilgesellschaft“, wie sie sich heute in Deutschland als Herrschaftsideologem und -praxis spreizt, war er mitnichten. Er war für die ganze, die wirkliche Freiheit und nicht für die politisch korrekte der Gegenwart, die die wirkliche Freiheit in Deutschland wieder einmal aufs höchste gefährdet. Und mindestens ebenso leidenschaftlich ging es am 17. Juni um die deutsche Einheit, weil die Spaltung der Nation als etwas zutiefst Widernatürliches empfunden wurde.
„Erste postnationale Nationalstaat der Weltgeschichte“
Veteranen des 17. Juni beklagen, aus einem Kapitel deutscher Nationalgeschichte habe man heute vielfach ein Kapitel DDR-Regionalgeschichte gemacht.
Schacht: In einem Staat, in dem der Begriff „Nationalgeschichte“ eher negativ konnotiert ist und die so grundierte Nationalgeschichte von eintausend Jahren auf ganze zwölf schrumpft, wird alles, was dem widerspricht, automatisch zweitrangig. Hinzu kommt, daß die heutige Bundesrepublik Deutschland auch deshalb nichts mehr mit einem solchen Datum in nationalpolitischer Hinsicht anfangen will und kann, weil sie ja der erste postnationale Nationalstaat der Weltgeschichte ist oder wenigstens streberhaft zu sein versucht.
Das glaubt ihr zwar niemand in der Welt; aber nach innen bringt das Machteffekte, und von den Franzosen beispielsweise wird man dafür verbal abgeknutscht. Da freut sich die postnationale deutsche Politikerseele ganz gewaltig und legt noch ein bißchen mehr Netto in die EU-Kasse.
Sie sind 1951 in der DDR geboren und 1973 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ verhaftet worden. Welche Bedeutung hatte der 17. Juni für einen nachgeborenen Mitteldeutschen wie Sie?
Schacht: Ich habe den 17. Juni in der DDR als Datum von Gegen- und Geheimgeschichte erlebt, die unterdrückt war und über die man nur in vertrautem Kreis sprach. Aber dann hatte man ja noch das Westradio oder -fernsehen, und im Laufe der Jahrzehnte vermied es sogar die SED, daran zu rühren. Die entsprechenden Passagen in den Schulbüchern wurden immer kleiner – wie im Westen auch.
Für meinen ganz persönlichen Widerstand gegen die SED-Diktatur hatte das Wissen um dieses Ereignis eine gravierende Bedeutung, wie auch der 20. Juli 1944 oder das mutige Wirken der Geschwister Scholl gegen die NS-Diktatur. Das alles gab mir große Kraft, die Herausforderung durch die zweite Diktatur zu bestehen.
Ideologische Irrsinnsidee
Warum haben sich nicht wenigstens die Mitteldeutschen dieses Datum im Herbst 1989 neu angeeignet – so wie zum Beispiel die Französische Revolution geistig auf die antike Sklavenbefreiung zurückgriff? Wäre das nicht naheliegend gewesen?
Schacht: Natürlich hätte es sich gehört, daß die intellektuellen und politischen Köpfe der Revolution von 1989, besonders in einheitspolitischer Hinsicht, sich in Kontinuität zu den Arbeitern des 17. Juni stehend gesehen und gedeutet hätten. Aber viele von ihnen – im Unterschied zu den arbeitenden Massen auf den Straßen des Herbstes 1989 – wollten ja bloß eine „bessere DDR“.
Diese ideologische Irrsinnsidee hat aber zum Glück eine absolute Mehrheit der normalen Menschen zwischen Wismar und Dresden am 18. März 1990 verhindert: Die eigentliche Revolution war deshalb diese erste freie Volkskammerwahl, und sie hat den kleineren Teil Deutschlands, der sich mit dem größeren bald darauf vereinigt hat, zivilisatorisch absolut qualifiziert, ja, ihm im verborgenen sogar überlegen gemacht.
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„Freiheit: Uns fällt nur 1945 & 1968 statt 17. Juni & 1989 ein“
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem 17. Juni und dem 9. November 1989?
Schacht: Der 9. November 1989 ist in Substanz und Auswirkung ein erfolgreicher 17. Juni. Wenn man den Quellen Glauben schenken darf, war es Erich Mielke, der das damals als erster begriffen hat. Da faselten sie im Westen noch vom Fortbestand der zwei deutschen Staaten. Grotesk! – Aber kein Wunder, ein Mann wie Jürgen Habermas, der laut Zeit ja der „Hegel der Bundesrepublik“ ist, hatte da schon lange den Boden bereitet.
Noch in Artikeln ein, zwei Jahre nach der Wiedervereinigung konstatierte er mit kaum unterdrückter Wut, daß dieses Ereignis vor dem Hintergrund des zivilisatorischen Standards in Westdeutschland nun wahrlich kein „Liberalisierungsschub“ gewesen sei. Das muß man sich mal vorstellen: Das größte emanzipatorische Ereignis der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts hat diesem Mann, dem das gesamte bundesrepublikanische Establishment in der Frankfurter Paulskirche Kränze geflochten hat, offenbar weder das Hirn erweitert noch das Herz erwärmt!
„Furcht vor der Freiheit des Souveräns“
Ist der 17. Juni – wie der Herbst 1989 – auch heute noch bzw. wieder gefährlich für die Etablierten?
Schacht: In einem gewissen Sinne, und vermutlich steht dahinter die unterschwellige Furcht vor der Freiheit des Souveräns, also des Volkes bei unseren Funktionseliten. Sie sprechen doch nicht umsonst immer lauter vom angeblichen Welt- und Naturgesetz der Globalisierung, dem man sich nicht widersetzen, sondern nur anpassen könne. Aber warum? Weil sie ihnen eine Art Fortschritts-Vorstufe zum innigst ersehnten Weltstaat ist.
Sie werden deshalb immer Gründe finden gegen eine freie Nation, die in souveräner Partnerschaft mit anderen freien Nationen Politik betreibt, auch Bündnispolitik. Sie sind Gefangene ihrer eigenen destruktiven Geschichtsideologie. Eine deutsche Freiheitstradition? Die man besingen und intellektuell verteidigen, von der man ausgehen und auf die man stolz sein soll?
An diesem Punkt versagt regelmäßig die Referentenprosa zu den Staatsfeiertagen, das haben die Redenschreiber in den Schulen des westdeutschen Sonderbewußtseins nicht gelernt. Allenfalls die Jahreszahlen 1945 und 1968 fallen ihnen jetzt noch ein. Ansonsten aber hat die Republik hier ihre abgründig große ideelle Leerstelle, über der sie vor Angst zappelt wie eine Comic-Figur über dem Abgrund.
„Diktatur und politisch korrekte Zivilgesellschaft“
Was ist denn Freiheit eigentlich wirklich?
Schacht: Freiheit ist zum einen die Form unserer Würde im Ernstfall. Zum anderen ist sie eine anthropologische, keine kulturelle Potenz. Es gibt vielleicht eine Kultur der Toleranz; aber es gibt keine Kultur der Freiheit im Sinne eines pädagogischen Projekts. Freiheit, individuell wie kollektiv, ist vielmehr mögliche Konsequenz eines geschichtsgenetisch gespeicherten Vermögens, nicht aber einer politischen Konstruktion, wie der Rechtsstaat notwendig eine ist.
Sie hängt mit einem theologischen Begriff wie Gnade enger zusammen, als Fortschritts-Rationalisten sich träumen lassen. Das macht sie ja so unberechenbar und läßt zugleich Hoffnung bestehen, wenn der Raum für Freiheit in Diktaturen, Halbdiktaturen oder ganz politisch korrekten Zivilgesellschaften kleiner und kleiner wird. Insofern bleibt auch der 17. Juni eine lebendige Tradition, selbst wenn seine Verächter sich als seine Erben aufspielen.
„Wortmächtig“ nennt die taz den Erzähler und Lyriker Ulrich Schacht, der 1951 im Stasi-Frauengefängnis Hoheneck geboren und als Student der Theologie 1973 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ seinerseits verhaftet wurde. Der Schriftsteller, dessen Texten Heiner Müller eine „kristalline Melancholie“ bescheinigte und der heute in Schweden lebt, gilt seitdem als profunder Kritiker des damaligen SED-Systems.
1976 freigekauft, studierte er in Hamburg Politologie und Philosophie, schrieb als Journalist für zahlreiche Zeitungen und verfaßte Gedichte, Essays und Erzählungen. Politische Aufmerksamkeit erzielte Schacht mit den beiden Sammelbänden „Die selbstbewußte Nation“ (Ullstein) und „Für eine Berliner Republik“ (Langen Müller), die er 1994 und 1997 zusammen mit dem Publizisten Heimo Schwilk herausgab. Literarisch beeindruckte die Feuilletons besonders sein 2001 erschienener Band „Verrat. Die Welt hat sich gedreht“ (Transit).