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„Großmacht ja, Weltmacht nein“

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„Großmacht ja, Weltmacht nein“

 

„Großmacht ja, Weltmacht nein“

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Herr Professor Scholl-Latour, Rußland hat unter Präsident Putin einen ungeahnten Wiederaufstieg erlebt. Was ist sein Geheimnis?

Scholl-Latour: Putin hat auch Glück gehabt, die Gas- und Ölpreise sind phänomenal in die Höhe gegangen. Damit hat Moskau wieder die Mittel, um Großmachtpolitik zu treiben – und auch die Reformen im Inneren voranzubringen, auch wenn dies von außen nicht so zu sehen sein mag.

Putin, nur ein Profiteur der Umstände?

Scholl-Latour: Nein. Rußland ist stets autokratisch regiert worden. Wer heute behauptet, die Russen würden zur Demokratie streben, der hat nur mit russischen Intellektuellen und Außenseitern gesprochen.

Den Russen ist die westliche Demokratie unter Gorbatschow und die westliche Marktwirtschaft unter Jelzin vorgeführt worden, und es hat sie beinahe in die Katastrophe geführt: Rußland stand in den neunziger Jahren am Rande des Abgrunds. Es hat damals eine Verelendung erlebt, die die relative Armut der Sowjetunion weit übertroffen hat.

Was ist aus dem angeblich dafür verantwortlichen „Erbe der Sowjetunion“ geworden?

Scholl-Latour: Es war die Politik Jelzins, die die nationalen Reichtümer Rußlands an Spekulanten verschleudert hat. Die Oligarchen gibt es zwar immer noch, daran kann auch Putin nichts ändern, aber er sorgt dafür, daß sie die russischen Staatsinteressen wahren.

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„Demographie legt die frühere ‘Dampfwalze Rußland’ lahm“

Rußland ist marode, korrupt, potentiell politisch instabil. Wird all das nur geschickt überdeckt, oder hat das Land an Substanz gewonnen?

Scholl-Latour: Die Russen verschweigen ihre Schwächen nicht, etwa daß sich die Infrastruktur in einem erbärmlichen Zustand befindet, daß die Korruption unerträglich ist. Natürlich ist Rußland in gewisser Weise ein Koloß auf tönernen Füßen – genährt von den Exporterlösen aus den Rohstoffverkäufen. Aber das sind heute alle Großmächte, einschließlich der USA – mit Ausnahme Chinas, das auf sehr solider Basis zu stehen beginnt.

Kehrt Rußland also in Zukunft auch als Supermacht zurück?

Scholl-Latour: Großmacht ja, Weltmacht nein. Denn seine eigentliche Schwäche liegt in seiner Demographie. Die Zeiten der „Dampfwalze Rußland“ sind vorbei. Das größte Flächenland der Erde hat heute nur noch rund 140 Millionen Einwohner – nicht mehr als Deutschland und Frankreich zusammen!

Und jedes Jahr verliert es 800.000 Menschen: Die Russen sterben vergleichsweise früh und die Geburtenrate ist extrem niedrig. Wer sich dagegen deutlich vermehrt, sind die Turkvölker an den Rändern des Landes, die aber wohl kaum Träger der russischen Staatsidee sind.

Die Türken stehen vor einer gewaltigen Bevölkerungsentwicklung, die bald die 100-Millionen-Einwohner-Grenze durchbricht. Wird die Türkei also in Zukunft bevölkerungsreicher sein als Rußland?

Scholl-Latour: Noch hat das Land etwa 72 Millionen Einwohner, aber Sie haben recht, die Prognosen gehen in diese Richtung. Dennoch wird die Türkei keine Bedrohung für Rußland werden. Eher wird ihre Bevölkerungsexplosion zur Gefahr für Europa, sollte man sie in die EU lassen.

Die Putin-Mehrheit für die Duma-Wahl am Sonntag ist sicher. Was wird die Wahl bringen, und was wird aus Putin?

Scholl-Latour: Was Putin bezüglich der eignen politischen Karriere plant, weiß keiner. Wir sprachen mit ihm bei meinem letzten Rußland-Aufenthalt 2007 über drei Stunden. Wir haben wirklich versucht, ihn in dieser Frage auszupressen: ohne Erfolg. Die Wahl selbst wird mit ihrem absehbaren Ergebnis Rußland Kontinuität bringen.

Die Autokratie ist seit jeher der Regierungsstil Rußlands gewesen: Der Zar bot immer einen gewissen Schutz gegen die Willkür der Bojaren, und so bietet heute Putin Schutz gegen die Willkür der Oligarchen.

Islamismus als gemeinsamer Gegener

Die von Putin etablierte „Demokratur“, wie Kritiker sie nennen, hat bei uns, ob der Menschenrechts- und Grundrechtsverletzungen, eine denkbar schlechte Presse.

Scholl-Latour: Ja, aber dahinter steckt natürlich auch eine systematische Kampagne gegen Rußland, und es ist ja klar, welchen Zwecken sie dient.

Nämlich?

Scholl-Latour: Die USA haben kein Interesse daran, daß sich die Europäer mit Rußland allzusehr vernetzten und damit einerseits eine größere Unabhängigkeit von Washington gewinnen, andererseits Moskau stärken. Erstaunlich dabei ist, daß die deutsche Presse die amerikanische Position unisono übernimmt.  

Sie sehen „Rußland im Zangengriff“, wie der Titel Ihres letzten Buches lautete, nämlich zwischen dem Islam, China und der Nato, sprich den USA.

Scholl-Latour: Es ist ein monumentaler Fehler – und Ausdruck der totalen Ignoranz – der Bush-Administration, Moskau nicht zu signalisieren, daß die USA und Rußland gemeinsame Interessen und gemeinsame potentielle Gegner haben. Nämlich zum einen den revolutionären Islamismus – der Rußland vom Kaukasus bis nach Tatarstan durchdringt. Zum anderen China.

Denn außer seiner kaukasischen und zentralasiatischen Grenze zum Islam ist die andere Schwachstelle Rußlands der Ferne Osten, der russischerseits kaum bevölkert ist: Diesseits des Ussuri, also auf russischer Seite, leben dort nur noch etwa fünf Millionen Einwohner, und wer kann, zieht weg.

Während in der angrenzenden chinesischen Mandschurei 120 Millionen Menschen leben, die Städte wachsen und nagelneue achtspurige Autobahnen durch die Steppe gebaut werden.

Derzeit scheinen sich Russen und Chinesen allerdings eher nahezustehen.

Scholl-Latour: Eben wegen der kurzsichtigen, konfrontativen Politik der USA gegenüber beiden Ländern. Es gab inzwischen sogar mehrere russisch-chinesische Militär-Manöver. Offiziell zur Abwehr des Terrorismus, tatsächlich aber vor allem zur Abwehr des US-Vordringens in Zentralasien.

Aufklärungsflugzeuge am der Grenze zu Rußland

Dennoch dürfte es sich doch eher um Schauveranstaltungen handeln als um die Anbahnung eines Bündnisses mit großer Zukunft.

Scholl-Latour: Im wesentlichen wird die Politik der USA über Dauer und Intensität dieses Bündnisses entscheiden. Solange die USA mit Hilfe der Nato und der EU versuchen, Rußland hinter die Wolga zurückzudrängen, mit ihren Aufklärungsflugzeugen zum Beispiel in Estland stehen, also in direkter Nachbarschaft zu Sankt Petersburg, oder versuchen, die Ukraine und Georgien in die Nato zu holen – welchen Sinn soll das eigentlich haben, wollen wir denn Krieg gegen die Russen führen? –, so lange ist Rußland darauf angewiesen, ein möglichst enges Verhältnis zu China zu finden.

Und China geht es nicht anders: Peking wird von uns immer wieder deutlich gemacht, daß es bezüglich seiner nationalen Interessen eher Kritik als Partnerschaft zu erwarten hat. Und die deutsche Politik und deutsche Presse segeln auf diesem fatalen Kurs ganz vorne mit: Unsere Politiker und Journalisten sorgen dafür, daß Deutschland in Chinas Augen eine antichinesische Haltung einnimmt. Wie unlängst beim Besuch des Dalai Lama in Berlin.

Was würden Sie also der Bundeskanzlerin und dem Außenminister empfehlen?

Scholl-Latour: Deutschland sollte auf keinen Fall den unseligen US-Feldzug gegen Rußland länger mitmachen! Offiziere der Bundeswehr befinden sich bereits in der Ukraine und Georgien, und wir leisten Zuarbeit bei der Vorbereitung, beide Länder in die Nato und die EU aufzunehmen.

Wir scheinen vergessen zu haben, daß die Sowjetunion bzw. Rußland seit der Zeit der Wende in Osteuropa bereits ungeheuere Konzessionen gemacht hat! Rußland befindet sich in einem Trauma wie Deutschland nach Versailles. Es ist heute auf die Grenzen des Zwangsfriedens von Brest-Litowsk von 1917 zurückgedrängt – historisch eine Stunde der tiefsten Erniedrigung für die Russen.

Wie damals hat man heute wieder die Ukraine verloren – dabei ist Kiew die Mutter aller russischen Städte. Wären die amerikanisch-europäischen Winkelzüge gelungen, wäre auch Weißrußland vollständig aus der russischen Sphäre herausgebrochen worden, dann stünde die Nato heute wie weiland die Wehrmacht gar bei Smolensk.

US-Raketen als Provokation

Ist der Traum von der „Sammlung der russischen Erde“ ausgeträumt, oder spielt die Heimholung etwa der Ukraine noch eine ernsthafte Rolle im politischen Denken der Russen?

Scholl-Latour: Dieser Gedanke entspricht durchaus der nationalen Gesinnung der meisten Russen auch heute noch. Allerdings wissen sie, daß derzeit dazu keine politische Möglichkeit besteht. Nachdem auch im Osten der Ukraine, der fast rein russisch bevölkert ist, zwar eine Anlehnung, aber kein Anschluß an Rußland erstrebt wird, ist letzterer wohl vorerst nicht mehr zu erwarten.

Was wir im Westen vergessen, ist, daß sich Rußland seit den neunziger Jahren um fast 1.000 Kilometer zurückgezogen hat – und zum Dank dafür vom Westen noch enger „belagert“ wird. Die Frage der Stationierung von US-Raketen in Polen wird als Provokation empfunden. Das hätte die deutsche Presse ruhig einmal beim Namen nennen können. Man fragt sich: Wozu das Ganze?

Wozu etwa einen Putsch in Georgien anstiften, der eine so dubiose Figur wie Micheil Saakaschwili an die Macht bringt, der jetzt mit dem Ausnahmezustand regieren muß und eine ähnliche Diktatur ausübt wie Eduard Schewardnadse zuvor. Wozu einen Putsch in Kirgisien einfädeln, der zu nichts weiter führt, als das Land an den Abgrund eines neuen Bürgerkrieges zu bringen? Diese Politik ist mit völlig unverständlich, und daß Berlin das kritiklos mitmacht, noch mehr.

Temperaturschwankungen hat es stets gegeben

Was vermuten Sie als Grund?

Scholl-Latour: Wir Deutsche machen seit dem Zweiten Weltkrieg fast alles mit, was die Amerikaner machen. Glauben Sie, es war ein Zufall, daß der Dalai Lama jüngst fast gleichzeitig im Weißen Haus und im Bundeskanzleramt empfangen wurde?

Im übrigen ist es wie mit dem Klimawandel: Solche Temperaturschwankungen hat es stets gegeben. Wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge sind sie nur zu einem geringen Teil von Menschen verursacht. Dennoch legt sich die Bundesregierung hier ganz außerordentlich ins Zeug. Warum? Das sind so Modethemen, mit denen man sich bei uns beliebt macht und von den wahren Problemen ablenkt.

Sie sehen die deutsche Außenpolitik also weder am eigenen nationalen Interesse noch an den geopolitischen Realitäten orientiert?

Scholl-Latour:
Es gibt gar keine konsequente deutsche Außenpolitik – ebensowenig wie eine strategische Verteidigungskonzeption.

„Vorsicht vor Rapallo- und Tauroggen-Spielen!“

Warum ist das so?

Scholl-Latour: Offenbar ist Deutschland immer noch nicht souverän. Nach der Wiedervereinigung hat man geglaubt, jetzt sei die Nachkriegszeit überwunden – aber wir haben den Mentalitätswandel zu einer normalen Nation nicht geschafft. Erstaunlich dabei ist, welcher ungeheuren Arroganz wir uns dennoch befleißigen.

Es gibt bei uns einen neuen Wilhelminismus, den wir aber diesmal von den Amerikanern übernommen haben: Wir wähnen uns insgeheim der übrigen Welt moralisch überlegen und glauben ihr ergo sagen zu können, wie man „es machen“ muß.

Kurz, wir sind wieder bei dem Motto „An unserem Wesen soll die Welt genesen!“ angekommen. Und zu dieser Torheit kommt obendrein noch Heuchelei: Denn wenn dann etwa in der muslimischen Welt bei freien Wahlen Islamisten die Mehrheit bekommen, lehnen wir diesen Volksentscheid ab und verlieren schlagartig das Interesse an der Demokratie dort.

Sollte Deutschland Rapallo wieder als außenpolitische Option entdecken?

Scholl-Latour: Um Gottes Willen! Keine Rapallo- und keine Tauroggen-Spiele!

Die Nato als Knackpunkt

Warum nicht?

Scholl-Latour: Deutschland ist in der westlichen Allianz gut aufgehoben. Der Knackpunkt ist, daß die Nato, die einst gegründet wurde, um West-Europa zu verteidigen, heute Krieg in Afghanistan führt. Das ist einer der Widersprüche, die behoben werden müssen!

Gewönne Deutschland mit einer Anlehnung an Rußland nicht mehr Spielraum gegenüber den USA? Immerhin hätten uns diese 2003 – bei einer CDU-Regierung in Berlin – sogar in den Irak-Krieg verwickelt.

Scholl-Latour: Wenn Deutschland wieder eine Schaukelpolitik beginnt, wäre das der Anfang vom Ende. Mit der amerikanischen Freundschaft könnte es dann nämlich ganz schnell vorbei sein.

In Ihrem neuen Buch „Zwischen den Fronten. Erlebte Weltgeschichte“ kritisieren Sie als zentrales Problem das Erlöschen des Willens zur europäischen Selbstbehauptung.

Scholl-Latour: Zu den Stärken des neuen Rußlands zählt eine Wiedergeburt der orthodoxen Kirche. Die Frömmigkeit der Russen ist echt. Die finden Sie freilich nicht bei den Intellektuellen in Moskau, aber im Volk ist sie wieder fest verwurzelt.

Der orthodoxe Klerus steht fast geschlossen hinter Putin. Als den eigentlichen Vordenker des neuen Rußlands könnte man vielleicht Alexander Solschenizyn mit seiner christlich-orthodoxen Volksverbundenheit betrachten. Unser Problem ist aber nicht Rußlands neue Stärke, sondern unsere eigene Schwäche.

Deshalb sollten wir aufhören mit der ewigen deutschen Angst vor Rußland. Moskau plant kein militärisches Vorgehen im Westen. Es widersetzt sich nur dem weiteren Vordringen der Nato nach Osten.

Ich habe bei meinen Rußland-Reisen nicht nur Putin, sondern auch den Ex-Verteidigungsminister Sergej Iwanow getroffen. Der hat es auf den Punkt gebracht: Rußland wird sich nie wieder dem Irrsinn der ehemaligen Sowjetunion hingeben und vierzig Prozent seines Budgets für Rüstung verpulvern.                            

Prof. Dr. Peter Scholl-Latour traf Rußlands Präsidenten Wladimir Putin im Herbst dieses Jahres zu einem mehrstündigen Gespräch. In seinem Buch „Rußland im Zangengriff“ (Propyläen, 2006) analysiert er die Situation der wiedererstehenden Großmacht. Der Journalist und Publizist, Jahrgang 1924, veröffentlichte bereits über dreißig Bücher. Soeben erschien sein Resümee: „Zwischen den Fronten. Erlebte Weltgeschichte“ (Propyläen, 2007)

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