Herr Professor Mearsheimer, eine führende deutsche Zeitung schrieb jüngst, Ihre These von der „Israel-Lobby“ sei nichts anderes als das, was Antisemiten früher das „Weltjudentum“ nannten.
Mearsheimer: Nein, ich widerspreche entschieden! Unser Buch „Die Israel-Lobby“ ist keineswegs antisemitisch. Ich halte den Vorwurf des Antisemitismus vielmehr für einen Winkelzug.
Inwiefern?
Mearsheimer: Mit dieser Unterstellung versuchen unsere Kritiker die Debatte vom eigentlichen Thema – dem Inhalt des Buches – abzulenken. Denn wenn es gelingt, in der Öffentlichkeit eine Debatte um unseren angeblichen Antisemitismus zu lancieren, dann diskutiert sie nicht die für die Israel-Lobby unangenehmen Fragen, die wir stellen, wie etwa die nach Moral und Legitimität der israelischen Besatzungspolitik oder ob die Israelpolitik der USA im nationalen Interesse der Vereinigten Staaten ist.
Sie fühlen sich ausmanövriert?
Mearsheimer: Ihre Frage ist doch der beste Beweis für den Erfolg dieser Strategie. Noch bevor Sie etwas zum Inhalt des Buches wissen wollen, kommen Sie schon mit dem Vorwurf des Antisemitismus.
Dann lassen Sie uns erst über den Inhalt sprechen und später darauf zurückkommen.
Mearsheimer: Jetzt möchte ich erst noch etwas zu dem von Ihnen nun einmal in den Raum gestellten Vorwurf sagen. Sie haben nämlich recht, es handelt sich tatsächlich um ein Manöver. Es hat drei Ziele: Das erste, die Verdrängung der von uns aufgeworfenen Fragen aus der Debatte, habe ich bereits geschildert. Der zweite Zweck ist, die von uns vertretenen Ansichten als extrem und damit als illegitim darzustellen. Folge: Mein Mitautor Stephen Walt und ich gelten vielfach nicht mehr als seriöse Wissenschaftler. Und drittens enthalten die Vorwürfe gegen uns eine unterschwellige, aber unmißverständliche Botschaft an die Öffentlichkeit: nämlich die Warnung, daß alle, die es wagen sollten, sich ebenfalls kritisch gegenüber der israelischen Politik, der US-Israelpolitik oder der amerikanischen Israel-Lobby zu äußern, auch das Schlimmste zu befürchten haben.
Eine sehr weitreichende Unterstellung.
Mearsheimer: Unterstellung? Denken Sie nur an die Debatte hierzulande um das – auf deutsch bis heute nicht erschienene – Buch des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter „Palestine: Peace not Apartheid“ im Dezember 2006. Der demokratische Politiker wurde beschuldigt, ein „Judenhasser“, ein „Antisemit“, ein „Nazi-Sympathisant“ und ein Rechtfertiger des Terrorismus zu sein. All dies wurde in Umlauf gesetzt, um ihn gesellschaftlich unmöglich zu machen und damit – und das ist der springende Punkt – seine Kritik und die von ihm aufgeworfenen Fragen zu delegitimieren.
Nun aber doch zu den Inhalten: Was genau verstehen Sie unter der Israel-Lobby?
Mearsheimer: Ich möchte zunächst klarstellen, was wir nicht damit meinen: Wir sprechen nicht von einer Kabale oder einer Verschwörung! Wir sprechen von einer legitimen Interessengruppe herkömmlicher Prägung, einer Lobby guter alter Schule sozusagen. Diese Lobby ist eine lose Koalition aus Personen und Gruppen, die versuchen, die US-Politik – vor allem auf dem Feld der Nahost-Politik – in eine pro-israelische Richtung zu drängen.
Sie wollen sagen, sie ist nicht verwerflich …
Mearsheimer: … aber sie ist ein Problem. Das ist unser Ansatz. Die Israel-Lobby ist in der Tat im Grunde nichts anders als etwa die spätestens seit Michael Moore auch außerhalb der USA bekannte National Rifle Association (NRA), die Nationale Vereinigung für das Tragen von Schußwaffen: eine ganz normale Lobby also. Und nicht nur ihre Existenz, auch die Handlungen der Israel-Lobby sind keineswegs fragwürdig. Vielmehr verhält sie sich völlig in Übereinstimmung mit den US-amerikanischen Traditionen des politischen Lobbyismus.
Wenn die Israel-Lobby eine so gewöhnliche Interessenvertretung ist, warum sollte sie dann, wie Sie kritisieren, so außergewöhnlich einflußreich sein?
Mearsheimer: Weil das politische System der USA zuläßt, daß Gruppen, die zahlenmäßig gar nicht so groß sind, einen überproportionalen Einfluß gewinnen. Nehmen Sie nur die eben genannte NRA, die die Verschärfung der Waffengesetzte in den USA immer wieder verhindert – obwohl eine Mehrheit der US-Amerikaner eine Verschärfung befürwortet! Warum gelingt ihr das dennoch? Weil sie eine zwar kleine, aber gut organisierte und politisch schlagkräftige Lobby-Gruppe ist.
Dennoch werfen Sie einigen Protagonisten der Israel-Lobby vor, zu weit zu gehen.
Mearsheimer: In einem gehen sie tatsächlich zu weit: Sie versuchen Kritiker als Antisemiten zu denunzieren. Die Ideale, für die die USA stehen, sind damit unvereinbar, denn die USA stehen für die offene Debatte.
Und die fürchtet die Lobby, meinen Sie?
Mearsheimer: Ja, denn die bedingungslose Unterstützung der USA für Israel beruht auf der stillschweigenden Annahme, dies sei der Wille der Mehrheit der Amerikaner. Dem ist aber nicht so: Tatsächlich ist die Bereitschaft dazu im Volk weit weniger verwurzelt. Eine offene Debatte würde diesen Umstand an den Tag bringen und damit der bisherigen US-Israelpolitik die demokratische Legitimation entziehen.
„Tödlichste Lügen“?
Abraham Foxman, Präsident der Anti-Defamation League (ADL), hat als Reaktion auf Ihre Thesen in den USA das Buch „The Deadliest Lies: The Israel Lobby and the Myth of Jewish Control“ veröffentlicht, unterstützt vom ehemaligen US-Außenminister George Schultz. Ihre Argumente qualifiziert Foxman darin als die „tödlichsten Lügen“.
Mearsheimer: Immer wird Abraham Foxman angeführt. Ich möchte daran erinnern, daß eine der positiven Rezensionen unseres Buches von M. J. Rosenberg stammt, der für Aipac gearbeitet hat, eine Gruppe, die Teil der Israel-Lobby ist! Es gibt also sogar Angehörige der Lobby, die unser Buch loben! Nun zu Foxmans Buch: Es ist ein großer Schwindel. Denn es erhebt nicht nur den Vorwurf, wir seien Antisemiten, sondern obendrein, daß unser Buch das moderne Äquivalent der berüchtigten antisemitischen „Protokolle der Weisen von Zion“ sei. Wie völlig absurd das ist, wird zwar jeder erkennen, der unser Buch liest, aber zunächst zeigt das Wirkung: Wir beide reden schon wieder über das Thema Antisemitismus!
Also: Was ist nun Ihrer Meinung nach genau das Problem mit der Israel-Lobby?
Mearsheimer: Daß Washington aufgrund der Einflußnahme der Lobby Tel Aviv politische, materielle und militärische Unterstützung in einem Ausmaß gewährt, das nichts mehr mit den nationalen Interessen der USA zu tun hat und das beiden, den USA wie Israel, zum Nachteil gereicht.
Wieso zum Nachteil Israels?
Mearsheimer: Unsere bisherige Nahost-Politik hat doch sichtlich dazu beigetragen, Israel weiter in Gefahr zu bringen. Hätten die USA beispielsweise ernsthaft Druck ausgeübt, auf den Bau von Siedlungen in den besetzten Gebieten zu verzichten und statt dessen wirkungsvoll geholfen, einen lebensfähigen Palästinenser-Staat aufzubauen, dann wäre die Situation für Israel heute weit weniger bedrohlich.
Eine der Grundaussagen Ihres Buches und Eckpfeiler Ihrer Argumentation ist, daß Israel kaum strategischen Wert für die USA besitzt.
Mearsheimer: Seit dem Ende des Kalten Krieges spielt Israel in der Tat keine wichtige Rolle mehr für das nationale Interesse der USA. Tatsächlich hat es sich sogar zu einer Bürde für uns entwickelt.
Könnte man Israel aber nicht ebenso – wie Deutschland während des Kalten Krieges – als wichtigen Pfeiler im äußersten Ring der geostrategischen Verteidigungskonzeption der USA betrachten bzw. als unverzichtbaren Vorposten der globalen Supermacht im Nahen Osten?
Mearsheimer: Nein, im Gegenteil. Es ist eben nicht so, wie oft behauptet, daß wir und Israel ein gemeinsames Terror-Problem haben. Hier werden Ursache und Wirkung vertauscht: Tatsächlich ist unser Israel-Engagement einer – ich betone: einer! – der Hauptgründe für unser Terror-Problem. Die USA sind also wegen ihrer Politik dort bedroht: Wegen unserer Unterstützung der israelischen Besatzungspolitik sind wir in der arabischen und islamischen Welt äußerst unbeliebt, ja teilweise tödlich verhaßt. Ist dieser Zusammenhang eine bloße Behauptung? Nein, er ist durch Datenerhebungen hinreichend belegt, wie wir in unserem Buch ausführen.
Ihre zweite These ist, daß es keine moralische Verpflichtung für die USA gibt, sich für Israel zu engagieren.
Mearsheimer: So stimmt das nicht. Wir sagen: Es gibt durchaus einen äußerst triftigen moralischen Grund für die Existenz des Staates Israel. Und wir vertreten durchaus den Standpunkt, daß die USA, sollte diese Existenz einmal auf dem Spiel stehen, sich zu ihrer Verteidigung aufmachen. Was wir aber kritisieren, ist der über jedes Maß hinausgehende Umfang der amerikanischen Hilfe sowie die Auffassung, es gebe eine moralische Verpflichtung für eine bedingungslose Unterstützung Israels.
Sie fordern also nicht den politischen Rückzug von Israel, sondern lediglich einen Politikwechsel?
Mearsheimer: Der Nahe und Mittlere Osten ist eine geostrategisch enorm wichtige Region, die die USA nicht einfach ignorieren können. Wir sollten unsere Beziehungen zu Israel keinesfalls abbrechen, aber wir sollten unsere derzeit gepflegte „special relationship“, unsere Sonderbeziehungen, beenden. Statt dessen sollten wir Israel endlich wie jedes andere befreundete Land, etwa wie Deutschland, behandeln.
„Israelisch“ statt „jüdisch“?
Sie sagen stets „Israel“ und „israelisch“, meiden die Begriffe „Juden“ und „jüdisch“. Warum?
Mearsheimer: Weil Israel-Lobby nicht jüdische Lobby meint. Das ist sehr wichtig! Denn zum einen darf man sich nicht dem Irrtum hingeben, alle Juden seien Teil der Israel-Lobby. Wenn man genauer hinschaut, stellt man fest, daß etwa ein Drittel der US-Juden keine bedeutende innere Bindung zu Israel empfindet. Und übrigens haben natürlich die Juden, die sich Israel verpflichtet fühlen, keineswegs einheitliche, oft sogar völlig gegensätzliche politische Vorstellungen. Zum anderen umfaßt die Israel-Lobby auch zahlreiche nicht-jüdische Personen und Gruppierungen. Ich nenne als ein Beispiel die christlichen Zionisten, also Christen, die die Rückkehr der Juden ins Heilige Land als biblischen Auftrag verstehen und die sich hier in den USA in verschiedenen Vereinigungen organisiert haben. Ein anderes Beispiel sind die Neokonservativen. Manche argumentieren, die Neocons seien eh alle Juden, aber das stimmt nicht, einige sind es nicht, wie zum Beispiel John Bolton oder James Woolsey.
Wie gelang es der Lobby nach Ihrer Ansicht, diesen Einfluß zu gewinnen?
Mearsheimer: Die Israel-Lobby existiert spätestens seit der Gründung des Staates Israel 1948, damals war ihr Einfluß aber nicht im geringsten mit dem heute zu vergleichen. Über die Jahrzehnte nahm dieser stetig zu, bis er etwa in den achtziger Jahren seinen ersten Höhepunkt erreichte. Seitdem ist die Lobby mit vielen mächtigen öffentlichen Institutionen der USA verwachsen.
Das ist so allgemein formuliert, daß es etwas nach bloßer Behauptung klingt.
Mearsheimer: Die Macht der Lobby hängt eben davon ab, welchen Einfluß jüdische Wähler in den jeweiligen Präsidentschaftswahlen besitzen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um demokratische oder republikanische Kandidaten handelt. Fakt ist, die Lobby hat signifikante Macht über die Exekutive.
Beziehen Sie sich nur auf die Außen- oder auch auf die Innenpolitik?
Mearsheimer: Es besteht zum Beispiel kein Zweifel, daß die Lobby etwa die Besetzung von Universitätsposten beeinflußt, israelkritische durch proisraelische Gelehrte zu ersetzen versucht und so das Geistesleben und damit den amerikanischen Israel-Diskurs zu beeinflussen bestrebt ist. Das ist der vielleicht verstörendste Faktor, daß Teile der Lobby sich bemühen, den Kongreß dazu zu bringen, Gesetzte zu erlassen, die den Professoren vorschreiben, was sie über Israel äußern dürfen.
Welche Rolle spielt die Political Correctness?
Mearsheimer: Sie ist ein Mittel der Lobby, die Freiheit, die US-Israelpolitik zu kritisieren, möglichst einzuschränken.
Außer hinsichtlich Israels sehen Sie also keine Einschränkung der Freiheit bzw. Manipulation der Innenpolitik durch die Lobby?
Mearsheimer: Unsere Untersuchung galt dem Thema „Die Israel-Lobby und die amerikanische Außenpolitik“.
Der Fall des jüngst entlassenen Politologen Norman Finkelstein (JF 40/07) betrifft nicht die Außenpolitik. Welche Rolle spielte die Lobby hier?
Mearsheimer: Dazu möchte ich mich nicht äußern.
Ist der Holocaust bzw. die Holocaust-Industrie, wie Norman Finkelstein sagt, Teil der Lobby?
Mearsheimer: Zahlreiche Bücher wurden bereits darüber geschrieben, daß die amerikanischen Juden immer weniger religiös sind und daß es Israel und der Holocaust sind, die heute den Kitt der jüdischen Gemeinschaft in den USA darstellen. Also: Keine Frage, daß die Lobby auch immer wieder den Holocaust in ihre Handlungen und Argumente einbindet. Das ist nachvollziehbar.
Gibt es auch in anderen Ländern eine Israel-Lobby?
Mearsheimer: Sicher, etwa in Kanada oder Großbritannien. Allerdings ist sie dort nicht so machtvoll wie in den USA.
Was ist mit Deutschland?
Mearsheimer: Ich möchte vermuten, es gibt sie auch bei Ihnen. Aber dazu kann ich nichts sagen, dann darüber habe ich keine Informationen.
Prof. Dr. John J. Mearsheimer: sorgt mit seinem soeben auf Deutsch erschienenen Buch „Die Israel-Lobby. Wie die amerikanische Außenpolitik beeinflußt wird“ (Campus) für Wirbel in den Feuilletons. Zusammen mit seinem Harvard-Kollegen Stephen M. Walt meint der renommierte Politikwissenschaftler festgestellt zu haben, daß die amerikanische Nahost-Politik nicht mehr den nationalen Interessen der USA folgt, sondern – dank des Einflusses einer machtvollen pro-israelischen Lobby – denen des Judenstaates. John Mearsheimer wurde 1947 in New York geboren. Er lehrt an der Universität von Chicago, wo er von 1989 bis 1992 das Institut für Politologie leitete. Heute ist er dort Direktor des Programms für internationale Sicherheitspolitik.
Die Israel-Lobby-Kontroverse: Im März 2006 erschien in der London Review of Books der Aufsatz „The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy“ („Die Israel-Lobby und die amerikanische Außenpolitik“). Zuvor hatte The Atlantic Monthly den Abdruck des ursprünglich für das US-Magazin verfaßten Textes verweigert. Sogleich entspann sich eine heftige Kontroverse. US-Medien qualifizierten die Aufsatz als „skandalös“, „abscheulich“ und „antisemitisch“. Nun haben die Autoren ihre Studie zu einem Buch erweitert. Erneut ernteten sie heftige Reaktionen. Allerdings gibt es neben der politischen auch sachliche Kritik, die einen berechtigten Ansatz, aber zu weitgehende Schlußfolgerungen konstatiert.