Herr Pawelka, die während der Vertreibungsdebatte 2003 postulierte „Normalisierung“ einerseits, die Kampagne gegen das Zentrum gegen Vertreibungen (ZgV) andererseits: In welchem Zeichen steht der Tag der Heimat 2006 am Samstag in Berlin? Pawelka: Ich begrüße die Fortschritte, die seit 2003 erzielt worden sind. Aber wenn die Feuilletonisten von „Normalisierung“ und „Überwindung eines Tabus“ sprechen, entspricht das, wie die Debatte um das ZgV zeigt, nicht der Realität. Nach wie vor wird die Vertreibung nicht als eigenständiges historisches Ereignis betrachtet, sondern lediglich als Folge von Hitlers Krieg. Obwohl es natürlich da auch eine Kausalität gibt, ist eine Monokausalität zu behaupten falsch: Also so zu tun, als habe es weder auf seiten der Vertreiberstaaten einen chauvinistischen Nationalismus, einen vom Zweiten Weltkrieg unabhängigen Deutschen-Haß und entsprechende Vertreibungspläne noch von seiten Stalins ein skrupelloses Machtkalkül gegeben. Und noch verkehrter ist die moralische Schlußfolgerung: Die Deutschen seien an dem, was ihnen angetan wurde, im Grunde selbst schuld. Die gesellschaftliche Revision im Umgang mit der Vertreibung seit 2003 läßt all diese Tabus außen vor und bezieht sich lediglich auf die Selbstverständlichkeit, daß auch die Vertriebenen Opfer waren. Von einer wirklichen Normalisierung sind wir also noch weit entfernt. Die Schaffung des ZgV ist von Angela Merkel vor der Bundestagswahl ausdrücklich versprochen worden. Nach der Wahl tauchte der Begriff im Koalitionsvertrag allerdings nicht mehr auf. Pawelka: Wir haben zwar eine CDU-geführte Regierung, die aber mit der SPD einen Kompromiß eingehen mußte. Den Begriff Zentrum gegen Vertreibungen ersetzt nun die Formulierung, „ein sichtbares Zeichen“. Beunruhigend ist allerdings, daß dies in Verbindung mit dem Europäischen Netzwerk gegen Vertreibung geschehen soll. Also jener angeblichen Alternative, deren eigentlicher Zweck die Verhinderung des Zentrums in der geplanten Weise ist. Fürchten Sie, die Union wird ihr Wahlversprechen brechen? Pawelka: Es steht zumindest zu befürchten, daß das Projekt anders aussehen wird als von den Vertriebenen gedacht. Die Union würde das natürlich nie zugeben. Droht also eine Lösung nach der Methode „des Kaisers neue Kleider“, wonach ein Europäisches Netzwerk der Öffentlichkeit als ZgV in lediglich anderer Form vorgegaukelt wird? Pawelka: Es gibt immerhin die Erklärung aus der Union, in Sachen ZgV standhaft zu bleiben. Daß von der SPD kein Nachgeben zu erwarten ist und folglich ein Patt besteht, ist nicht Angela Merkels Schuld. Ist denn die Union wirklich bereit, für die Interessen der Vertriebenen zu kämpfen? Pawelka: Wir bemerken immerhin ein freundlicheres Klima seit dem Regierungswechsel. Entscheidend aber wird sein, ob zum Beispiel die Streichungen auf dem Sektor der Kulturförderung der Vertriebenen in den sieben Jahren unter Rot-Grün rückgängig gemacht wird. Auch das läßt sich noch nicht abschließend beurteilen, die Regierung ist erst seit etwa zehn Monaten im Amt. Immerhin ist im aktuellen Haushalt bereits eine Million Euro mehr für die Kulturarbeit angesetzt. Weitere Prüfsteine werden sein: die Frage der Entschädigung der deutschen Zwangsarbeiter, die von Bundeskanzler Schröder ja demonstrativ ignoriert wurde, die Frage der Rückgabe der Beutekunst, die Eigentumsfrage und ein deutlich besseres Engagement für die deutsche Volksgruppe in der alten Heimat, die zum Beispiel in Schlesien und Südostpreußen das schlechteste Minderheitenrecht in der ganzen EU „genießen“. In Sachen Eigentumsfrage, also im Klartext Preußische Treuhand, ist realistisch gesehen keinerlei Unterstützung zu erwarten. Muß man nicht feststellen, daß das Projekt Treuhand, das enteigneten Besitz von Vertriebenen per Gericht erstreiten will, gescheitert ist? Pawelka: Nein, die Treuhand hat inzwischen alle Vorarbeiten getroffen, um die angestrebten Ziele anzugehen. Die Eigentumsfrage, die auch Deutsche in der alten Heimat bedrückt, ist übrigens auch eine soziale Frage, die gelöst werden muß. Daß wir dabei – anders, als dies in anderen Ländern der Fall wäre – keine politische Unterstützung von seiten der eigenen Regierung genießen, steht leider in der Tradition deutscher Nachkriegspolitik. Jedoch erwarte ich von der gegenwärtigen Regierung, daß sie nicht aktiv gegen die Rechte eines Teils der eigenen Bevölkerung handelt, wie das zuvor 2004 von Bundeskanzler Schröder angedroht worden ist, der entsprechend auf die Gerichte einwirken wollte. Die Vertriebenen würden es vor allem wegen früherer Zusagen nicht verstehen, wenn die CDU-Regierung doch anders handeln würde. Wegen der Treuhand kam es zum persönlichen Zerwürfnis zwischen Erika Steinbach und Ihnen. Wie stehen Sie als Vorsitzender der Landsmannschaft Schlesien zu Ihrer Präsidentin? Pawelka: Die von Frau Steinbach gegen mich angestrengte Klage ist am 23. Mai vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht abgewiesen worden. Der Gegensatz zu Frau Steinbach ergibt sich gegenwärtig aus der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung. Während sie die Erinnerungskultur – Stichwort ZgV – in den Mittelpunkt stellt, möchte ich gerne die ungelösten Fragen angehen – eben wie vorstehend genannt: Eigentumsfrage, Beutekunst, Zwangsarbeit und deutsche Volksgruppen in der Heimat -, die viele Vertriebene auch heute noch belasten. Inhalte übrigens, die von Frau Steinbach noch vor wenigen Jahren ebenso vertreten wurden – woran die Polen heute immer noch gern erinnern. Störfeuer gibt es genug, so daß es nicht gut ist, interne Auseinandersetzungen zu pflegen. Das so heftig, zum Teil als „revanchistisch“, befehdete Konzept des ZgV trägt in Wirklichkeit den Kompromiß bereits in sich. Pawelka: Sie haben völlig recht, daß ZgV ist im Grunde bereits der geforderte Kompromiß, es rückt ja schon davon ab, der Vertreibung der Deutschen alleine zu gedenken. Durch die Aufnahme der Darstellung aller anderen Vertreibungen des 20. Jahrhunderts geht es in puncto Europäisierung schon weit über alles hinaus, was man in unseren Nachbarländern an vergleichbarem nationalem Gedenken findet. Auf dieses normale nationale Gedenken verzichten die deutschen Vertriebenen mit dem ZgV bereits im Voraus! Sonst hätten Leute wie Peter Glotz, Ralph Giordano oder Helga Hirsch das Zentrum auch nie unterstützt. Es ist bezeichnend, daß das ZgV dennoch in vielen Medien als ein fragwürdiges Projekt dargestellt wird, was ich als Beweis dafür ansehe, daß das Tabu in puncto Vertreibung noch immer wirkt. Am 10. August wurde in Berlin die Ausstellung „Erzwungene Wege“ der Stiftung des Zentrum gegen Vertreibungen eröffnet. Die Schau gibt einen Vorgeschmack der Darstellung, wie sie einmal im ZgV zu sehen sein könnte. Pawelka: Offenbar wird die Schau den Ansprüchen an die historische Wahrheit gerecht. Es finden sich zum Beispiel wohl keine der sonst üblichen Verkürzungen auf die „Ursache Hitler“ als Grund für die Vertreibung. Daß die Wahrheit komplizierter ist, wird unter anderem auch durch die Erwähnung der Vertreibung der finnischen Ostkarelier 1939/40 und 1945 bis 1947 durch die Sowjetunion deutlich. Dank dieses Beispiels wird klar, daß die Ostdeutschen eben nicht als Reaktion auf Hitlers Krieg vertrieben worden sind. Denn Finnland hat Rußland nicht angegriffen, sondern ist von ihm 1939 überfallen worden, dennoch ist es den Kareliern ergangen wie 1945 den Deutschen. Anders die Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“ des Bonner Haus der Geschichte. Pawelka: Diese Ausstellung folgt genau dem eingangs von mir beschriebenen Schema: Der ständige Verweis auf das NS-Unrecht dient nicht zur historischen Abrundung der Darstellung, sondern soll das Amoralische der Vertreibung relativieren, indem er die Schuld unterschwellig den Deutschen zuschiebt. Im April wurden drei Aktivisten von einem polnischen Gericht verurteilt, weil sie in Schlesien Plakate geklebt hatten, die die Polen an die Vertreibungsverbrechen erinnern sollten. Pawelka: Ich nehme Ihre Folgefrage gleich vorweg und sage, als politischer Verband können wir solche Aktionen nicht unterstützen. Ich bewerte es allerdings als positiv, daß damit auf das Problem aufmerksam gemacht wurde, daß sich Polen bis heute nicht in dem notwendigen Umfang diesem Kapitel seiner Geschichte stellt. Während des Prozesses haben polnische Historiker als Gutachter erneut die historischen Wahrheiten bestritten. Dabei heißt es sogar in einem Bericht der Sonderkommission des ZK der polnischen Arbeiterpartei aus der Zeit der Vertreibung in Schlesien: „Im ganzen Kreis herrscht furchtbare Willkür, die Leute haben das Gefühl für Unrecht und Gerechtigkeit verloren. Kein Verbrechen ist mehr imstande, Verwunderung auszulösen. Die Milizen, zum Teil auch der Sicherheitsdienst, vergewaltigen und berauben die (deutsche – Anm. R.P.) Bevölkerung.“ Würde man unsere bundesdeutschen Maßstäbe zur Leugnung historischer Verbrechen anlegen, stünden bei uns nicht die drei jungen Männer, sondern die Gutachter vor Gericht. Rudi Pawelka ist Mitglied im Bundesvorstand des Bundes der Vertriebenen (BdV) und seit April 2000 als Nachfolger des soeben verstorbenen Herbert Hupka Bundesvorsitzender der Landsmannschaft Schlesien. Der 1940 in Breslau geborene ehemalige Polizeibeamte bekleidet außerdem das Amt des Aufsichtsratsvorsitzenden der Preußischen Treuhand und steht dem Arbeitskreis Deutsche Zwangsarbeiter (AKDZ) vor. Foto: Wilfried Rogasch (l.), Kurator der Schau „Erzwungene Wege“, Erika Steinbach (M.): „Gegen die Tabuisierung“ weitere Interview-Partner der JF