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„Mut zur Zuspitzung“

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„Mut zur Zuspitzung“

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Herr Dr. Müller-Vogg, wie kommt die CDU wieder in die Gänge?

Müller-Vogg: Will denn die Union überhaupt wieder in die Gänge kommen?

Und, will sie?

Müller-Vogg: Die CDU regiert, stellt die Kanzlerin – und das führt bei manchem in Berlin immer noch zu einem gewissen Glücksgefühl.

Sie meinen, solange die Kapelle spielt, der Champagner perlt, ignoriert man den Wasser­einbruch unter Deck?

Müller-Vogg: Die Union befindet sich in einem historischen Umfragetief. Gut, die Niederlage in Berlin war hausgemacht, kann also nicht verallgemeinert werden. Aber daß man in einer schweren Krise steckt, ist unbestritten.

Wie kann der CDU aus dieser Klemme geholfen werden?

Müller-Vogg: Indem sich die Partei zu einer grundlegenden Diskussion darüber aufrafft, wofür sie eigentlich steht.

Die Debatte derzeit reicht Ihnen nicht aus?

Müller-Vogg: Nein, die aktuelle Diskussion über das Grundsatzprogramm ist eher eine Beschäftigungstherapie für die Parteibasis, damit diese nicht so aufmerksam nach Berlin schaut.

Welcher Weg müßte eingeschlagen werden? Der "zurück nach Leipzig"?

Müller-Vogg: In der Tat! Noch vor einem Jahr standen die Leipziger Beschlüsse für die großen Reformvorhaben der Union – für Merkels Wende zurück zu Ludwig Erhard, für die Merzsche Bierdeckel-Steuer, für die Gesundheitsprämie. Inzwischen steht Leipzig für einen schönen, aber nur kurzen Traum von einer neuen sozialen Marktwirtschaft.

Sie sprechen von der Frage nach der Identität der Partei.

Müller-Vogg: Ja, die entscheidende Frage für die CDU lautet: "Worin unterscheiden wir uns grundlegend von der SPD?" Derzeit ist man programmatisch in einem Schwebezustand: Formal gelten die Beschlüsse von Leipzig, formal gilt auch noch das Wahlprogramm. Doch die praktische Politik ist von beidem meilenweit entfernt. Die CDU muß sich selbst darüber klar werden: Entweder gelten Leipzig und das Wahlprogramm nicht mehr – dann sollte man auch so ehrlich sein und einräumen, daß man sich geirrt hat -, oder aber beide Programme gelten auch weiterhin. Dann muß die CDU aber auch deutlich machen, daß sie sich diesen Politikentwürfen weiterhin innerlich verpflichtet fühlt und es allein die SPD ist, die die Union daran hindert, sie umzusetzen. Aber einfach so zu tun, als habe es Leipzig nie gegeben, ist intelligenten Wählern nicht zu vermitteln.

Was hat denn die Union dazu bewogen, sich innerlich von ihrem Programm zu lösen?

Müller-Vogg: Angela Merkel hat am Nachmittag des Wahltages, am 18. September 2005, in den Abgrund geschaut. Dieses Erlebnis ließ sie und ihre Umgebung offenbar zu der Ansicht kommen, sie hätten den Wählern inhaltlich zuviel zugemutet. Selbst ein Mann wie Roland Koch vertrat später die Ansicht, nach diesem Wahlkampf wisse man, daß zum Beispiel das Kirchhof-Modell in Deutschland nicht mehrheitsfähig sei.

Na ja, so richtig hatte man es nicht versucht.

Müller-Vogg: Eben, bis heute hat die Union die Ursachen für das Wahldebakel von 2005 nicht wirklich diskutiert. Daß eine Oppositionspartei innerhalb von acht Wochen Wahlkampf von über 45 auf 35 Prozent abstürzt, das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht gegeben! Eine Ursache dafür war, daß man sich, als die Partei Gegenwind in bezug auf ihr Programm und ihren Schatten-Minister Kirchhof verspürte, kollektiv weggeduckt hat. In der Endphase der Wahlschlacht stand das Offizierkorps am Rande des Schlachtfeldes und schaute zu, wie ihre Heerführerin sich redlich mühte, ganz nach dem Motto: "Wenn sie gewinnt, ist es gut für die Partei. Wenn sie verliert, ist es auch gut – nämlich für uns."

Das macht die Frage, ob die CDU ein Führungsproblem hat, unausweichlich.

Müller-Vogg: Nicht formal, aber real, ja! Jeder weiß, daß Merkel nach der Spendenaffäre als Trümmerfrau ausgeguckt war, nicht aber dafür, Kanzlerin zu werden.

Schließt sich die ketzerische Frage an, ob die CDU durch einen Personalwechsel aus der Krise gerettet werden könnte?

Müller-Vogg: Auf halbem Wege die Bundeskanzlerin ohne konkreten Anlaß austauschen? Das würde die Lage der Partei nur verschlimmern. Außerdem: Aufstände gibt es grundsätzlich nur dann, wenn sich ein Rebellenführer findet, der sagt: "Ich wag’s!"

Ist es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, daß es derzeit in der CDU nicht einmal dafür reicht?

Müller-Vogg: Um eine praktische Antwort zu geben: Ein Aufstand würde voraussetzen, daß Wulf und Koch sich einig werden. Daran ist derzeit nicht zu denken. Beide warten ab und hoffen auf ihre Chance.

Also muß die Bundeskanzlerin unterstützt werden, damit unser Land weiterkommt. Was kann für Angela Merkel getan werden?

Müller-Vogg: Zum Beispiel könnten die führenden Köpfe der Partei ihr helfen. Angela Merkel kann sich als Kanzlerin der Großen Koalition nicht täglich mit der SPD anlegen. Das wäre eigentlich die Aufgabe des Generalsekretärs. Der müßte der Bevölkerung morgens, mittags und abends erklären, was die CDU für das Land tun könnte, wenn sie nicht von der SPD daran gehindert würde. Pofallas Motto müßte eigentlich lauten: Soviel Große Koalition wie nötig, soviel CDU-Profil wie möglich. Der Generalsekretär verhält sich jedoch eher wie ein Regierungssprecher der Großen Koalition.

Ist Ronald Pofalla also der falsche Mann?

Müller-Vogg: Ich traute ihm durchaus zu, die Debatte zuzuspitzen und das Profil der Union zu schärfen.

Warum tut er es nicht?

Müller-Vogg: Gute Frage. Wenn die CDU-Vorsitzende mit diesem Stil nicht einverstanden wäre, würde sie ihn das wohl wissen lassen.

Partei-Jugendorganisationen haben auch die Aufgabe, neue Impulse zu geben. Was kann die Junge Union für die Kanzlerin tun?

Müller-Vogg: Die Junge Union hat bisher verdienstvollerweise durchaus wider den Stachel gelöckt und Merkels ursprünglichen Reformkurs unterstützt. Nur: Sobald der JU-Vorsitzende ein Bundestagsmandat hat, ist sein Spielraum enorm eingeengt. Während sich die Vorsitzenden der Nachwuchsorganisationen linker Parteien oftmals sogar so benehmen, als gehörten sie nicht zur Partei, wirkt bei ihren bürgerlichen Pendants die Fraktionsdisziplin. Daß JU-Chef Philipp Mißfelder, der seit 2005 im Bundestag sitzt, etwa bei der Abstimmung über die Gesundheitsreform mit ein paar anderen Jungen dagegen stimmt, würde ich mir wünschen. Das wird aber wohl nicht geschehen. Die junge Gruppe in der Bundestagsfraktion müßte bei einigen Punkten widersprechen und deutlich machen: "Das tragen wir nicht mit, weil jede Nachhaltigkeit fehlt! Das können wir vor der Zukunft nicht verantworten!" Aber das wagt leider keiner.

Würde vielleicht eine neue bürgerliche Partei an der Seite der CDU die Lösung ihrer Schwierigkeiten bringen?

Müller-Vogg: Die Union hat in der Tat das Problem, daß die alte Formel "Was die CDU verliert, gewinnt die FDP und umgekehrt" nicht mehr gilt. Inzwischen verliert das bürgerliche Lager insgesamt. Das ist doppelt bedenklich, weil im linken Lager dieser Stimmentausch noch halbwegs funktioniert. Alle Umfragen ergeben zur Zeit in einem Punkt Klarheit: Rot-Rot-Grün ist stärker als Schwarz-Gelb.

Also, was wären die Vorteile einer neuen Partei?

Müller-Vogg: Eine neue bürgerliche Partei als Protestpartei gegen Steuern und Bürokratie, mit einer patriotischen Komponente und dem Reiz des Neuen, Unverbrauchten hätte theoretisch große Chancen und würde die CDU zwingen, Farbe zu bekennen. Aus der Erfahrung wissen wir allerdings auch, daß Parteigründungen am grünen Tisch zum Scheitern verurteilt sind. Ich glaube, eine erfolgreiche neue bürgerliche Partei könnte nur durch eine Abspaltung von der Union entstehen – dafür aber sehe ich keinerlei Anzeichen.

Kann die Union denn so sicher sein, daß an der Basis kein Unmut wächst?

Müller-Vogg: Anläßlich der Auftaktveranstaltung zur CDU-Programmdiskussion unlängst in Berlin befürchtete die Parteiführung, die Basis könnte sich in der Öffentlichkeit rebellisch zeigen. Deshalb lud man sicherheitshalber die Kreisvorsitzenden vorher ins Konrad-Adenauer-Haus ein. Dort sollten Sie – hinter verschlossenen Türen – Gelegenheit haben, Dampf abzulassen.

Und?

Müller-Vogg: Nichts ist passiert. Es grummelt heftig an der Basis. Aber sobald die Herren und Damen Kreisvorsitzenden einer leibhaftigen Kanzlerin oder einem leibhaftigen Generalsekretär gegenüberstehen, verläßt sie der Mut.

Gut für die Parteiführung.

Müller-Vogg: Aber schlecht für die Partei, weil die Basis als Korrektiv ausfällt. Die Union sollte sich aber nicht der Illusion hingeben, sie könnte ihren marktwirtschaftlich denkenden Wählern jede sozialdemokratische Verrenkung zumuten, ohne nicht auch noch diese zu vergraulen.

Die Vernachlässigung der Stamm- zugunsten der Laufkundschaft hat die Union zuerst im Bereich der Gesellschaftspolitik praktiziert.

Müller-Vogg: Der eklatanteste Paradigmenwechsel auf diesem Feld ist neben dem Antidiskriminierungsgesetz das Erziehungsgeld. Bürgerliche Position war es immer, der Staat habe sich aus der Familie herauszuhalten. Jetzt aber gibt es sogar eine Prämie, wenn Papa die Windeln wechselt. Es geht mir nicht darum, daß Männer nicht zu Hause bleiben und sich um ihre Kinder kümmern sollen. Aber das müssen sie selbst zusammen mit ihren Frauen entscheiden. Unter einer CDU-Kanzlerin wird jedoch erstmals politisch korrektes Verhalten vom Staat finanziell belohnt, macht sich also der Fiskus im Kinderzimmer breit.

Mit der Stammklientel allein kann man nicht mehr auf vierzig Prozent kommen. Die Frage ist also, wie zieht man Wähler herüber?

Müller-Vogg: Sicher nicht, indem man sein Mäntelchen ständig nach dem Wind hängt, sondern vielmehr durch Standfestigkeit und gute Argumente. Nur so beeindruckt man auch einige derer, die die eigene Meinung nicht hundertprozentig teilen. Ich wünsche mir deshalb eine Union, die nach dem Motto handelt: "Wer hören will, daß es schmerzlose Reformen gibt, wer also angelogen werden will, der soll eine andere Partei wählen. Dessen Stimme wollen wir gar nicht!" Aber zu dieser Form der Zuspitzung kann sich die Partei nicht aufraffen, weil sie nicht in der Verfassung ist, klar Position zu beziehen.

Mit einem Wort, die Union ist nicht mehr kampagnenfähig?

Müller-Vogg: Das ist genau der Punkt. Statt dessen regiert das Motto: "Allen wohl und niemandem wehe." Eine Ursache dafür ist auch der hohe Anteil an Berufspolitikern – übrigens in allen Parteien. Die können ihr politisches Fortkommen nicht notfalls für Überzeugungen in die Waagschale werfen, weil sie nichts anderes gelernt haben und von der Politik abhängig sind.

Der erste Bereich, indem die CDU ihre Kampagnenfähigkeit preisgegeben hat, war die Gesellschaftspolitik.

Müller-Vogg: Mit Wirtschaftspolitik allein lassen sich keine Wahlen gewinnen. Gerade die bürgerlichen Wähler erwarten von der Union, daß sie auch in der Gesellschaftspolitik klar Position bezieht, sich zu den traditionellen Werten bekennt. Wie man so etwas macht, das kann man bei der CSU studieren. Die überzeugt potentielle Wechselwähler durch ihre Regierungskompetenz und befriedigt zugleich den Wunsch bürgerlicher Wähler nach Orientierung an Werten und patriotischer Grundhaltung. Nun ja, die CDU versucht jetzt das Thema Freiheit für sich zu reklamieren. Nur: Der Auftakt ging völlig daneben. Angela Merkel hat etwa unter Bezug auf Willy Brandts berühmtes Diktum die Losung ausgegeben: "Mehr Freiheit wagen!" Offenbar wußten aber ihre Berater nicht, was Brandt damals mit "Mehr Demokratie wagen" gemeint hatte, nämlich die Demokratisierung der repräsentativen Demokratie mit einem massiven Ausbau der Mitbestimmung, der Drittel-Parität an den Hochschulen und all dem Unsinn.

Der Ausstieg der Union aus einer eigenständigen Gesellschaftspolitik hat auch zum Verstummen des konservativen Korrektivs in puncto Bevölkerungsschwund, Einwanderung und der Implementierung der sogenannten "multikulturellen Gesellschaft" geführt.

Müller-Vogg: Nehmen Sie als Beispiel den Kindergarten-Streit in Dietzenbach. Eigentlich hätte man erwarten müssen, daß die Bundes-CDU sich dabei voll hinter ihre Parteifreunde in Hessen stellt. Aber sie traut sich nicht, sich zum Konzept einer deutschen Leitkultur zu bekennen. Meine Tochter ist in den USA in der Schule als Ausländerin auch mit Sternenbanner, Fahneneid und US-Hymne konfrontiert gewesen – von bleibenden Schäden kann ich aber nichts bemerken. Im Gegenteil. Als wir zurück nach Deutschland kamen, vermißte sie das alles in der Schule und beschwerte sich heftig.

Dabei hatte die Union mehrfach angekündigt, eine Patriotismusdebatte zu führen.

Müller-Vogg: Und woher kam sie am Ende? Von Linken wie Spiegel-Kulturchef Matthias Matussek oder direkt aus dem Volk, als im Sommer plötzlich in allen Straßen Schwarz-Rot-Gold geflaggt wurde. Die Union war so überrumpelt, daß Katrin Göring-Eckardt sogar unwidersprochen sagen durfte, es sei das Verdienst grüner Multikulti-Politik, daß die Leute heute so unbefangen mit Schwarz-Rot-Gold umgehen könnten.

Die Patriotismusdebatte hätte auch die Frage Zentrum gegen Vertreibungen geklärt.

Müller-Vogg: Leider kann sich die CDU bis heute nicht zu einer offensiven Vertretung des Projektes entschließen. Die Parteiführung lebt ständig in der Angst, irgendwer könnte sie der politischen Unkorrektheit bezichtigen. Die Union sollte sich und den Menschen endlich klarmachen, was Toleranz eigentlich bedeutet. Das Wort kommt nämlich nicht von "tollen", sondern von "tolerare", also ertragen. Um aber eine andere Position ertragen zu können, braucht man erst einmal einen eigenen Standpunkt. Den muß man dann aber auch offensiv vertreten. Und daran mangelt es in der CDU.

Wie erreicht man nun Angela Merkel und die CDU mit all diesen guten Ratschlägen?

Müller-Vogg: Vielleicht müßte jemand der Partei deutlich machen, wie gefährlich es ist, an marktwirtschaftlichen Reformen interessierte Wähler in die Arme der FDP und Wertkonservative in die Wahlenthaltung zu treiben. So kann es zwar auch 2009 eine Große Koalition geben – aber dann mit Angela Merkel als Vizekanzlerin.

Dr. Hugo Müller-Vogg war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der FAZ. Seitdem ist der Volkswirt und Politikwissenschaftler als freier Journalist tätig ( www.hugo-mueller-vogg.de ), unter anderem als regelmäßiger Kommentator der Bild-Zeitung, der Welt am Sonntag und des Nachrichtensenders N24. Außerdem wurde der 1947 in Mannheim geborene Müller-Vogg vor allem durch seine Gesprächsbände mit Angela Merkel und Horst Köhler zuletzt auch als politischer Publizist bekannt.

Jüngste Veröffentlichungen: "Roland Koch – Beim Wort genommen. Ein Gespräch mit Hugo Müller-Vogg" (Societäts-Verlag, 2002), "Horst Köhler: ‚Offen will ich sein und notfalls unbequem.‘ Ein Gespräch mit Hugo Müller-Vogg" (Hoffmann und Campe, 2005), "Angela Merkel – Mein Weg. Ein Gespräch mit Hugo Müller-Vogg" (Hoffmann und Campe, 2005)

Foto: Angela Merkel auf dem Deutschlandtag der Jungen Union 2004: "In der Gesellschaftspolitik wieder Position beziehen"

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