Herr Dr. Belien, am Sonntag hat der rechte Vlaams Belang (VB) – vormals Vlaams Blok – bei den Kommunalwahlen in Belgien mit über zwanzig Prozent das beste Ergebnis seiner Geschichte erzielt. Seit mehr als dreißig Jahren beobachten Sie nun die belgische Politik. Ist der „cordon sanitaire“, die Ausgrenzungspolitik der etablierten Parteien gegen den VB, gescheitert? Belien: Schwierig zu sagen. Der VB hat zwar insgesamt deutlich gewonnen, aber nicht überall so gut wie erwartet abgeschnitten. In Antwerpen, ihrer Hochburg, hat die Partei noch mal etwas zulegen können, aber in einigen großen Städten wie Gent, Mechelen und Brüssel hat sie etwas verloren. Das hat mit dem neu eingeführten Stimmrecht für Einwanderer zu tun. In der Praxis hat der „cordon sanitaire“ eine breite Koalition der Sozialisten, der Grünen, der Liberalen und der Christdemokraten bedeutet, um den VB von der Macht fernzuhalten. Das hat jetzt zu einer totalen Polarisierung der Politik geführt. Die bürgerlichen Kräfte, also die Christdemokraten und die Liberalen, gehen in der Allparteienkoalition unter, für sie ist das eine schlechte Sache. Und die Pole werden stärker, also die Sozialisten und der Vlaams Belang. Was sind die Gründe für den stetigen Vormarsch des Vlaams Belang? Belien: Es gibt drei Motive, weshalb die Leute für den VB stimmen. Erstens sind viele Bürger besorgt wegen der Konsequenzen der Einwanderung – besonders der muslimischen Einwanderung. Zweitens befürworten immer mehr Bürger das Ziel einer flämischen Sezession, sie wollen das Ende des heutigen Belgien. Und drittens wählen sie den VB, weil sie die Nase voll haben vom gegenwärtigen politischen Establishment. Die einzige Möglichkeit, gegen alle etablierten Parteien zu stimmen, ist ein Kreuz beim VB. Könnte denn Belgien tatsächlich auseinanderbrechen, wenn der VB noch stärker wird? Belien: Der Vlaams Belang hat deutlich gemacht, daß er in keine Regierung eintreten wird, wenn diese nicht die letzte belgische Regierung ist. Im Unterschied zu anderen Nationalstaaten ist Belgien ein Kunststaat, eingerichtet im Jahr 1830 nach den Vorstellungen der damaligen Großmächte. Etwa sechzig Prozent der Bevölkerung sind Flamen und sprechen niederländischen Dialekt, etwas mehr als ein Drittel der Bewohner sind französischsprechende Wallonen. Vor 1830 gehörte das heutige Belgien zu den Niederlanden. Dann gab es eine Revolution der wallonischen Provinzen, die zu Frankreich strebten, was aber die anderen europäischen Herrscher verhindern wollten. Also hat man einfach zwei ganz unterschiedliche Völker, die Wallonen und die Flamen, in einen neuen Staat gepackt und als neuen König einen Prinzen aus dem deutschen Geschlecht Sachsen-Coburg-Gotha installiert. Über diese Geschichte haben Sie 2005 das Buch „A Throne in Brussels“ geschrieben. Belien: Die Flamen wurden gegen ihren Willen zu „Belgiern“ gemacht und werden seitdem von einer Elite beherrscht, die sich die Zustimmung der Wähler „kauft“. Der ganze umverteilende Wohlfahrtsstaat, der im zwanzigsten Jahrhundert aufgebaut wurde, dient diesem Zweck. Der VB ist gegen den Einheitsstaat und gegen den Wohlfahrtsstaat. Sie sind immer wieder Schikanen ausgesetzt, weil Sie eine fundamentaloppositionelle Haltung gegen den belgischen Staat formulieren. In Ihrem Buch ziehen Sie etwa Parallelen zwischen dem belgischen Kunststaat und der EU als Kunststaat. Belien: Richtig, der VB ist nicht nur eine Gefahr für den Bestand Belgiens, sondern für die ganze EU. Es gibt starke politische Kräfte, die Europa zu einem eigenständigen Staat machen und dabei auch einen paneuropäischen Wohlfahrtsstaat einführen wollen. Damit würde sich die belgische Erfahrung auf europäischer Ebene wiederholen. Ich möchte sagen, Belgien ist das unausgesprochene Modell für die EU. Es mag ja Zufall sein, aber Brüssel, die sogenannte europäische Hauptstadt, liegt auch in Belgien. Und wenn Belgien zerbricht, dann zerbricht das EU-Vorbild. Wenn in Belgien die einzelnen Volksgruppen auseinanderstreben, dann hat dies hohe symbolische Bedeutung für die Zukunft der EU. Die Eurokraten wissen das, deshalb hassen sie den Vlaams Belang. Sie waren 1994 Gründer und dann viele Jahre Direktor des Centre for the New Europe (CNE), einer marktliberalen und euroskeptischen Denkfabrik in Brüssel. Was gefällt Ihnen denn nicht an der EU? Belien: Wenn Sie eine liberale Demokratie wollen, die bürgerliche Freiheiten garantiert, dann ist der Nationalstaat dafür die richtige Grundlage. Das Modell der liberalen Demokratie kann, so glaube ich, in einem supranationalen, sehr heterogenen Gebilde nicht mehr funktionieren. Die Leute fühlen sich zu diesem Staat nicht hingezogen. Ich bin zwar ohnehin kein großer Freund des Staates – als Liberaler wünsche ich mir einen sehr begrenzten und schlanken Staat -, aber einen gewissen Patriotismus und eine gewisse Loyalität braucht man nun mal, um ein Gemeinwesen friedlich und freiheitlich zu organisieren. Das ist ja auch das Problem der heutigen Massenzuwanderung. Die Immigranten werden nicht mehr assimiliert, und die angestammte Bevölkerung fühlt sich an den Rand gedrängt, fühlt sich fremd im eigenen Land. Die EU verstärkt dieses Gefühl der politischen und kulturellen Entfremdung der Leute. Wenn Sie sagen, die EU habe einen fatalen Konstruktionsfehler, heißt das, daß man sie auflösen sollte? Oder könnte man die EU auch reformieren und so retten? Belien: Ich hätte nichts gegen eine EU als eine Föderation von freien europäischen Nationalstaaten, eine EU, die sich weitgehend darauf beschränkt, eine Zone des freien Marktes zu sein, wie sich das einige der Gründerväter der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einmal vorgestellt haben mögen. Solch einer Freihandelszone könnte dann sogar die Türkei beitreten. Wir sollten einen freien Warenverkehr und einen freien Kapitalverkehr erlauben, aber totale Personenfreizügigkeit geht nicht. Sie sind als sehr pro-amerikanisch bekannt und publizieren schon seit vielen Jahren hauptsächlich in amerikanischen Zeitungen. Nachdem Sie in Belgien von staatlicher Seite immer stärker unter Druck kommen, könnten Sie sich vorstellen, in die USA auszuwandern? Belien: Ja, ich fühle mich in Amerika tatsächlich zu Hause, und natürlich gehören wir zu derselben westlichen Kultur. Warum bin ich so pro-amerikanisch eingestellt? Ich denke, wenn Europa kollabiert – und ich glaube, das ist eine reale Gefahr -, dann wird das westliche Modell einer freiheitlichen Gesellschaft nur in den USA überleben. Allerdings muß man da differenzieren. Sie kennen vielleicht das Konzept der „zwei Amerikas“. Es gibt das rechte „rote“ und das linke „blaue“ Amerika, also ein traditionelles, ländlich konservatives Amerika, das sich viel vom alten Europa bewahrt hat, und das progressive, urbane Amerika an der Ost- und der Westküste, wo die Dekadenz ebenfalls weit fortgeschritten ist. Ich fühle mich in gewissem Sinne als ein rechter „roter Amerikaner“, wo man Autonomie, Eigenverantwortung und Staatsskepsis hochhält, wie das etwa auch in der Schweiz noch der Fall ist. Obwohl ich mich zum traditionellen Amerika hingezogen fühle, bleibe ich jedoch Europäer und will diesen Kontinent nicht einfach aufgeben. Sie haben auch viel über die religiösen Aspekte der Politik geschrieben. Amerika scheint sich auf seine christlichen Wurzeln zu besinnen, während diese in Europa nur noch schwach sind. Könnte in dieses religiöse Vakuum der Islam stoßen? Belien: Das fürchte ich. Besonders die demographische Entwicklung spricht dafür, daß der Islam in nicht allzu ferner Zukunft in Europa herrschen wird. Ich bin leider ziemlich pessimistisch. Es mag tatsächlich schon zu spät sein, um noch eine demographische Wende einzuleiten. Das würde mindestens zwanzig Jahre dauern. Aber selbst wenn ich glaube, daß es zu spät ist, gebe ich nicht auf und laufe weg. Wir kämpfen um unser Überleben. Ich glaube, es ist meine Pflicht, hierzubleiben und darüber zu schreiben, um die Amerikaner wachzurütteln und vor der Islamisierung zu warnen. Allerdings sind es doch gerade die USA, die uns Europäer drängen, die Türkei in die EU aufzunehmen – mit allen Konsequenzen wie noch mehr Einwanderung und beschleunigter Islamisierung. Wie paßt das zusammen mit der Behauptung, daß die Amerikaner christliche Verbündete seien? Belien: Offenbar realisieren die Amerikaner nicht, was das für Europa bedeuten würde. Die denken, die EU sei nur eine Freihandelszone, und verstehen nicht, daß es bei einem EU-Beitritt der Türkei auch freie Einwanderung gäbe. Einige amerikanische Publizisten beginnen langsam aufzuwachen und thematisieren das Problem der Islamisierung Europas. Durch einen Beitritt der Türkei zur EU würde das tatsächlich noch schlimmer. Falls die Türkei der EU beitreten dürfte, dann wäre Brüssel-Europa doch am Ende. Müßte Sie das nicht freuen? Belien: Tja, vielleicht sollte es mich wirklich freuen, wenn der ganze Laden auseinanderfliegt. Die EU ist ja jetzt schon dabei zu kollabieren. Einige Freunde von mir, etwa Daniel Hannan, der für die britischen Konservativen im Europäischen Parlament sitzt, sind tatsächlich genau aus diesem Grunde für den Türkei-Beitritt. Allerdings ist es ein gefährliches Spiel. Wenn die EU durch den türkischen Beitritt zugrunde geht, dann gehen gleichzeitig durch die Masseneinwanderung die europäischen Kulturen zugrunde. Belien: Das stimmt. Vielleicht sind die europäischen Kulturen eh schon am Ende. Warum sind eigentlich die europäischen politischen Eliten so sehr für die Masseneinwanderung aus Kleinasien, Arabien und Afrika? Belien: Kennen Sie das „Eurabien“-Konzept der ägyptischen Historikerin Bat Ye’or? Sie hat versucht nachzuweisen – zuletzt sehr ausführlich in ihrem Buch „Eurabia“ -, daß die euro-arabische Synthese geplant und gewünscht ist. Ich möchte nicht sagen, daß es eine echte Verschwörung war, doch besonders die Franzosen haben stets an einer Art Allianz mit den Arabern und den ehemaligen Kolonien in Afrika gearbeitet. Für die Franzosen geht es dabei um Macht. Andere europäische Politiker haben eher ideologische Sympathien für die Einwanderung, weil sie sich davon eine „multikulturelle Bereicherung“ versprechen. Wenn wir auf die Mikroebene schauen, dann spielen natürlich auch dort oft genug Machterwägungen eine Rolle. Für die Sozialisten sind die neuen islamischen Wähler eine echte Bereicherung, eine Lebensversicherung. Es ist klar, daß die sozialistischen Wohlfahrtsstaaten kollabieren, doch die Migranten werden immer für die Parteien stimmen, die versprechen, den Wohlfahrtsstaat aufrechtzuerhalten. Die Einwanderer sind also ein sicheres Wählerpotential für die Sozialisten? Belien: Schauen Sie doch nur die letzten Wahlen in Belgien an: Die meisten Gewinne für die Linke kamen von den Zugewanderten, die allerdings auch gezielt ihre ethnischen Listenkandidaten wählen. In Antwerpen etwa haben Sozialisten zehn Sitze dazu gewonnen – und sechs dieser neuen Gemeinderäte gehen an muslimische Einwanderer. Langfristig werden die Muslime die linken Parteien unterwandern und übernehmen. Es gibt eine paradoxe heimliche Allianz zwischen der postmodernen Linken und den traditionell eingestellten Islamisten. Die Linke meint, sie habe die Einwanderer im Griff, doch langfristig werden die Einwanderer die Linke übernehmen. Solange diese nur die sozialistischen Parteien zerstören, würde es mir nichts ausmachen. Aber leider sieht es danach aus, daß sie zugleich unsere freiheitliche westliche Kultur zerstören. Wie sehen Sie die Zukunft Europas? Wo werden wir in zwanzig Jahren stehen? Belien: Ich fürchte, es läuft auf eine Balkanisierung hinaus. Europa wird in kleinere politische Einheiten zerfallen, ein wenig wie im Mittelalter, aber mit dem Unterschied, daß es das christliche Band nicht mehr gibt. Viele der Territorien, besonders die Städte, werden in der Hand der Muslime sein. Das kann man jetzt schon in vielen Vorstädten in Frankreich beobachten, wo muslimische Einwanderer die Kontrolle übernommen haben und wo sich die Polizei nicht mehr hintraut. Auch in Brüssel, Antwerpen oder Rotterdam gibt es schon rein islamische Viertel. Es findet eine rasende Desintegration statt – Verhältnisse entstehen, wie wir sie vom Balkan her kennen. Und ich glaube, es wird wie dort kein friedliches Nebeneinander sein, sondern in einem Bürgerkrieg enden. Dr. Paul Belien – Der flämische Publizist, Herausgeber des englischsprachigen The Brussels Journal – The voice of conservatism in Europe ( www.brusselsjournal.com ) und Chefredakteur der Zeitschrift Sezessie, gehört zu den schärfsten Kritikern des belgischen Staats und der EU. Geboren 1959, arbeitete er zunächst für heimische Zeitungen, ab den neunziger Jahren für angelsächsische Blätter wie das Wall Street Journal oder The Independent, heute für The American Conservative. Anfang der neunziger Jahre gründete er zusammen mit acht weiteren Aktivisten den liberalen VLD, die Partei des späteren belgischen Ministerpräsident Guy Verhofstadt, neu. 1994 rief er die „Denkfabrik“ Centre for the New Europe (www.cne.org) ins Leben, die er sieben Jahre leitete, und brachte gemeinsam mit anderen EU-kritischen Autoren, darunter Margaret Thatcher, den Sammelband „Visions of Europe“ (1994) heraus. Verheiratet ist Belien mit der gebürtigen Irin Alexandra Colen, einer Abgeordneten des Vlaams Belang. Kürzlich wurde er zum „Adjunct Scholar“ des renommierten Washingtoner Hudson Instituts ernannt. „A Throne in Brussels: Britain, the Saxe-Coburgs and the Belgianisation of Europe“ (Imprint Academic, 2005) Paul Belien zählt zu den wichtigsten nonkonformen Publizisten Europas. Wegen seiner fundamentalen Kritik am belgischen Staat, der Europäischen Union, ihrem politischen Establishment und vor allem der islamischen Einwanderung nach Europa sah er sich wiederholt politisch motivierten Schikanen ausgesetzt (JF 38/06). So verlor er seine Stelle bei einer flämischen Zeitung, der Staat hat ihn wiederholt gemaßregelt. US-Medien sehen darin einen Angriff auf die Pressefreiheit, die New Yorker National Review etwa, die einen guten Draht zum Weißen Haus hat, drohte mit Blick auf den Fall Belien mit einer Kampagne für Meinungsfreiheit. Die Washington Times schrieb, man solle Beliens Rat „beachten, nicht kriminalisieren“ und schloß: „Die freie Rede in Belgien ist gefährdet.“ (JF) Buch: „A Throne in Brussels: Britain, the Saxe-Coburgs and the Belgianisation of Europe“ (Imprint Academic, 2005) weitere Interview-Partner der JF