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„Galgenfrist für die DDR“

„Galgenfrist für die DDR“

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„Galgenfrist für die DDR“

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Herr Professor Steininger, zum 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 ist eine Flut von Büchern zum Thema erschienen. Ihr Buch allerdings ist keine dicke Studie, die mit noch mehr Details aufwartet, sondern eine geradezu irritierend kurze Thesenschrift. Steininger: Laut einer Umfrage wissen 83 Prozent der Deutschen unter 24 Jahren nicht, was sich am 17. Juni 1953 zugetragen hat. Denn heute ist die Geschichte der DDR an unseren Schulen und sogar an unseren Universitäten kaum noch ein Thema. Die Erinnerung an sie erfolgt nur noch in Gedenk-Eruptionen, wie etwa zum 40. Jahrestag des Mauerbaus 2001 oder nun zum 50. Jahrestag des 17. Juni. Erstens will ich mit meinem Buch die DDR als das verständlich machen, was sie ist, nämlich ein Teil der deutschen Geschichte. Wir sollten endlich lernen, daß wir Deutschen es auch bei der Zeit zwischen 1945 und 1990 mit der gemeinsamen Geschichte eines Volkes zu tun haben und die Teilung lediglich in der Tatsache der Existenz zweier Staaten bestand. Zweitens wollte ich den 17. Juni nicht isoliert betrachten, wie das so viele der derzeit erscheinenden Publikationen tun, sondern in Beziehung zur Gesamtgeschichte der DDR setzen – mit einem Wort, die gesamte DDR „in den Griff nehmen“. Und daraus ableitend, drittens, darstellen, daß es sich beim Volksaufstand vom 16. und 17. Juni 1953 um den Beginn des langen Endes der DDR gehandelt hat. Sie verknüpfen also 1953 und 1989? Steininger: Ja, der 16. und 17. Juni 1953 ist zu einem Trauma geworden, das die SED bis zu ihrem Ende 1989 verfolgt hat. Zum Beispiel fragte Erich Mielke im August 1989 angesichts der damaligen Ereignisse: „Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?“ Ebenfalls im Sommer 1989 machte das MfS eine Befragung von linientreuen Genossen. Ergebnis: Diese waren der Auffassung, daß die Stimmung „wie 1953 ist“. Im November 1989 wies der ehemalige ZK-Sekretär Kurt Hager darauf hin, daß die Situation „schärfer, ernster als 1953 ist“. Diese Traumatisierung reicht aber wohl kaum aus, um von einer Kontinuität zwischen 1953 und 1989 zu sprechen? Steininger: Das ist richtig, aber sie weist die Richtung. Die Kontinuität besteht in der Tatsache, daß die Probleme, die zum 17. Juni geführt haben, danach nie wirklich behoben worden sind. Das heißt, die Krise dauerte an, sie überdauerte, bis 1989 durch die äußeren Umstände erneut die Chance zum Aufbegehren gegen die SED bestand. Also eine Kontinuität der Krise, aber keine Kontinuität des Kampfes um nationale Freiheit und Einheit? Steininger: Nun, wir haben es beim 17. Juni mit einem sich aus einem sozialen Protest – es ging bekanntlich um eine Erhöhung der Arbeitsnorm – entwickelnden politischen Revolutionsversuch zu tun. Denn gefordert wurde nicht nur Abschaffung der Norm, Senkung der Preise und gar die Absetzung des „Spitzbartes“, also Ulbrichts, sondern schließlich sogar freie Wahlen, was nicht nur das Ende der Regierung, sondern wohl auch das Ende der SED-Herrschaft bedeutet hätte. Und damit nicht genug, mit der aus freien Wahlen wahrscheinlich folgenden deutschen Einheit wäre nicht nur das Ende der SED-Herrschaft, sondern das Ende des Staates DDR gekommen. Jeder weiß, wären die Sowjets nicht eingeschritten, wäre die DDR über Nacht verschwunden. Und dieser Zustand der Herrschaftssicherung durch die Bajonette der Sowjets dauerte die gesamte Existenz der DDR bis 1989 an. Im Juli 1970 sagt Breschnew zu Honecker: „Ohne uns gibt es keine DDR.“ Also war die Niederschlagung des Volksaufstandes lediglich eine Galgenfrist für die DDR, eines Staates, der aus systemimmanenten Gründen zum Scheitern verurteilt war. Was 1953 begonnen – der Ruf nach der deutschen Einheit – wurde, wurde 1989 vollendet. Waren der 16. und 17. Juni 1953 nicht eher die letzte „Abwehrschlacht“ des Volkes gegen die Etablierung der DDR als die erste Schlacht zu ihrem Sturz? Steininger: In der Tat sprach man in der SED von der Zeit nach dem 17. Juni auch schon mal als „innerer Staatsgründung“ oder vom Mauerbau 1961 als „zweiter Geburt der DDR“. Ich halte das für hohle Phrasen. Denn bitte betrachten Sie das Ausmaß dieser Revolution: Der 17. Juni fand nicht nur in Berlin statt, sondern in über 500 Orten, in der ganzen DDR. Er wurde nicht nur von den Arbeitern getragen, sondern auch von der bäuerlichen Bevölkerung, und der Aufstand war politisch gesehen am Abend des 17. Juni noch nicht einmal zu Ende, wie heute allgemein angenommen wird. Bitte? Steininger: Ja, in einigen Großbetrieben ging der Aufruhr bis in den Juli und August hinein weiter. In welcher Form? Steininger: Zum Beispiel legte – trotz des harten Durchgreifens von Roter Armee und SED mit etwa 50 getöteten Aufständischen, 21 nachträglichen Todesurteilen und fast 2.000 Hafturteilen – noch vom 15. bis 17. Juli 1953 ein Drittel der Belegschaft des Buna-Werkes in Bitterfeld, immerhin fast 6.000 Arbeiter, die Arbeit aus Protest nieder. Ähnlich im Carl-Zeiss-Werk in Jena. Und sogar damals war ihren sozialen Forderungen die Forderung nach „freien und geheimen Wahlen für die Einheit Deutschlands“ angehängt. Die DDR stand seit damals unter gewaltigem Druck, und ihr Ende wäre ohne Kredite aus der Bundesrepublik – und vor allem ohne die ideologische Anerkennung der Teilung Deutschlands durch die Politiker und Intellektuellen in Westdeutschland – wohl noch früher gekommen. I m Herbst 1989 demonstrierten zumindest zu Beginn der Erhebung in erster Linie Bürger, die mitnichten die Einheit Deutschlands wollten, die sich vielmehr mit dem Sozialismus identifizierten und die lieber einen Dritten Weg statt den Weg in die Wiedervereinigung beschritten hätten. Anders als 1953, als man noch patriotisch fühlte, mit dem Sozialismus abrechnen wollte und wie selbstverständlich von einem gemeinsamen Deutschland ausging. Steininger: Die Teilung galt 1953 als anormaler Zustand, die Einheit Deutschlands dagegen als das Normale. Das hat sich im Laufe der Zeit in der Tat umgekehrt, bis man spätestens in den achtziger Jahren die Teilung weitgehend als normal betrachtete. Skandalöserweise wurde dieser Prozeß von Bonn sogar gefördert – man erinnere sich, die SPD war gar bereit, eine eigenständige DDR-Staatsbürgerschaft anzuerkennen. Doch Ende 1989 dann waren diejenigen, die diese Politik vertreten hatten, politisch ganz schnell weg vom Fenster, wenn sie nicht rechtzeitig auf die deutsche Einheit umgesattelt hatten. Der amerikanische Professor Fritz Stern sprach bei einer Feierstunde zum 17. Juni 1987 im Bundestag dem 17. Juni 1953 jeden gesamtdeutschen Charakter ab. Steininger: Das ist barer Unsinn. Natürlich wurde der 17. Juni in der DDR historisch möglichst unterschlagen. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, wurde die Mär von den westlichen oder gar faschistischen Provokateuren hervorgekramt, die angeblich mit Demonstrationen und Randale einen Aufstand gegen den Sozialismus zu entfesseln versucht hätten. In der Bundesrepublik wurde der Tag dagegen bekanntlich zum Feiertag gemacht. Zu Beginn noch in Erinnerung an die Brüder und Schwestern in der DDR mit Kerzen in den Fenstern begangen, schließlich – wir wissen es alle – nutzte man den 17. Juni nur noch zum Badengehen. Besonders peinlich war das stets in West-Berlin, wo die eine Seite einen zusätzlichen Feiertag hatte, für den die andere Seite vor Jahr und Tag den Kopf hingehalten hatte. Schließlich galt, wer in den achtziger Jahren noch engagiert von der deutschen Einheit sprach, gemeinhin als Reaktionär und Friedensfeind oder gleich als Nazi und Faschist. Das ging bis hin zu der absurden These von der deutschen Teilung als Strafe für den Zweiten Weltkrieg, mit der etwa Günter Grass noch 1989 unterwegs war. Heute kommt von links als Argument gegen den 17. Juni, daß dieser Tag durch seinen Mißbrach in der Zeit des Kalten Krieges durch die Bundesrepublik der Ära Adenauer als Feiertag diskreditiert sei. Steininger: Was heißt mißbraucht? Das kommt von Herrschaften, denen offenbar jedes Argument recht ist. Der 17. Juni war nun einmal der erste Aufstand gegen den Kommunismus in Osteuropa nach 1945. Er hat zwar keinen Einfluß auf die Rebellionen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei gehabt, aber er hat die Ehre, die erste gewesen zu sein. Er war eine Erhebung gegen eine selbstgerechte Führungsclique, die sich anmaßte, die Interessen der Arbeiter zu vertreten und genau das Gegenteil tat. Das bleibt, Mißbrauch hin oder her! Wir Deutsche, vor allem aber die Bürger der ehemaligen DDR, können heute stolz auf den 17. Juni sein. Wir sind es aber, mit einigen Ausnahmen, nicht. Steininger: Kein Wunder, schließlich ist den Deutschen das historische und politische Nationalbewußtsein mehr und mehr ausgetrieben worden. Und jene, die es hätten besser wissen müssen, hatten offenbar kein Interesse daran, auf eine positive Entwicklung hinzuwirken und auch an den 17. Juni ehrlich und konstruktiv zu erinnern. Aber was war auch anderes zu erwarten, angesichts des westlichen Schmusekurses gegenüber der DDR? Reihenweise lagen sich die Westpolitiker doch mit den Apparatschiks der SED in den Armen. Helmut Kohl hätte beim Empfang Erich Honeckers noch 1987 diesen an den 17. Juni 1953 erinnern können. Der 17. Juni war den politischen Eliten der Bundesrepublik schließlich überwiegend peinlich. Zwar war keine der etablierten Parteien offiziell gegen die Wiedervereinigung, doch tatsächlich ging jeder politische Schritt, den sie unternahmen, genau in die entgegengesetzte Richtung. Was wäre geschehen, wenn der Aufstand vom 17. Juni erfolgreich verlaufen wäre? Steininger: Die Frage wäre gewesen, ob die Wiedervereinigung akzeptiert worden wäre. Die USA wären bereit gewesen, sie zuzulassen, die waren ja auch 1989/90 die einzigen, die nicht dagegen waren, aber wohl kaum unsere europäischen Nachbarn. Die Amerikaner waren 1952 in Zusammenhang mit der Stalin-Note sogar bereit, die Sowjets zu einer Konferenz einzuladen. Es gab intern gar schon ein Datum für erste gesamtdeutsche Wahlen, nämlich im November 1952. Aber dazu war Adenauer nicht bereit. Warum? Steininger: Adenauer hat den Deutschen mißtraut und sah die Westbindung gefährdet. Adenauer ein Verräter an der deutschen Einheit? Steininger: So können Sie ihn nennen, ich nenne ihn einen Mann mit großer Lebenserfahrung. Das klingt zynisch. Steininger: Ach wissen Sie, die Franzosen zum Beispiel hätten sich erst gar nicht teilen lassen. Eine Mauer in Paris ist undenkbar, das hätte man nie akzeptiert, da wären die Leute auf die Barrikaden gegangen. Aber in Deutschland war es möglich, und 1953 hat der Westen die Deutschen in der DDR dann auch im Stich gelassen. Als Zeithistoriker, der die Quellen kennt, wird man wahrscheinlich Zyniker. Was ist mit der staatstragenden Geschichtsschreibung der Bundesrepublik Deutschland bezüglich der deutschen Einheit: Was Adenauer begonnen hat, hat der Enkel … Steininger: Ja, ja, ja … Also lebt die Bundesrepublik Deutschland mit einer gewaltigen Lebenslüge? Steininger: So habe ich das auch einmal genannt, aber ich bin die Diskussion leid … Es interessiert sich doch kaum noch ein Deutscher dafür. Können wir denn die große Krise, die unserem Land derzeit bevorsteht, als Gemeinschaft meistern, wenn wir uns so wenig für die Grundlage dieser Gemeinschaft, nämlich unsere Nationalgeschichte, interessieren? Steininger: Nein, und es ist vielleicht besser, Sie gewöhnen sich an diese Tatsache. Es ist kein Naturgesetz, daß ehemals große Nationen nach einer Zeit des Niedergangs wieder aufsteigen. Der Preis für die späte Einheit war hoch, vielleicht zu hoch. Vermutlich hat die Geschichte über die Deutschen ihr Urteil bereits gesprochen. Schade, aber vorbei. Hätte der 50. Jahrestag des 17. Juni nicht die Chance zu einer echten Rückbesinnung geboten? Steininger: Der 17. Juni hätte nach 1989 mit neuem Inhalt gefüllt werden können, doch statt dessen hat man ihn fallengelassen. Er hätte zu einem echten Tag der deutschen Einheit für alle Deutschen werden können, statt des 3. Oktobers, der wohl niemandem wirklich etwas bedeutet. Ja, der 17. Juni hätte sogar ein Element sein können, um die ehemalige Identität der DDR-Deutschen nach 1989 positiv zu definieren und sie damit in eine neue gesamtdeutsche Identität einzubetten. Foto: Feierstunde im (schmucklosen) Plenarsaal des Bundestags (1987), am Rednerpult spricht der Historiker Fritz Stern dem 17. Juni 1953 jeden gesamtdeutschen Charakter ab: „Offiziell für die Wiedervereinigung, ging jeder politische Schritt in die entgegengesetzte Richtung. Ohne Kredite und vor allem ohne die ideologische Anerkennung der Teilung durch Politiker und Intellektuelle der Bundesrepublik wäre das Ende der DDR noch früher gekommen.“ (Steininger) Prof. Dr. Rolf Steininger ist Leiter des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und Fachmann für die deutsche Nachkriegsgeschichte. Geboren 1942 in Plettenberg/Westfalen, lehrte er an verschiedenen Universitäten in Deutschland, USA, Israel und Australien. In zahlreichen Büchern, Fernseh- und Hörfunkbeiträgen sowie in Artikeln für Welt, FAZ und Zeit beschäftigte er sich eingehend mit den unterschiedlichen Stationen des Kalten Krieges und der deutschen Teilung. Zuletzt er- schien seine Monographie „Der 17. Juni 1953. Der Anfang vom langen Ende der DDR“ (Olzog, 2003). weitere Interview-Partner der JF

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