Herr Grossouvre, Sie haben ein programmatisches Buch über die Notwendigkeit der Bildung einer neuen europäischen Achse verfaßt. Wie bewerten Sie den angeblichen deutsch-französischen Geheimplan zur Beilegung der Irak-Krise? Grossouvre: Es ist erhellend, daß dieser Plan in der französischen Presse ganz anders präsentiert worden ist, als in der deutschen. Während die Veröffentlichung des Planes in Deutschland durch den Spiegel recht spektakulär aufgemacht war, wurde er in Frankreich viel kühler dargestellt – nämlich nicht als eine geheimer Coup der Europäer, sondern als eine in ihren Hauptelementen der Uno längst unterbreitete Überlegung. Die englische Presse hat dagegen übrigens – durchaus ähnlich der deutschen – das Konzept als Geheimplan gewertet, aber auch als Versuch, die Politik der USA zu torpe-
dieren. Der ehemalige französische Kulturminister und heutige sozialistische Abgeordnete der Nationalversammlung, Jack Lang, wertet den Plan, unabhängig von dessen Inhalt, als tröstendes Zeichen der deutsch-französischen Einigkeit. Grossouvre: Das ist in der Tat der springende Punkt! Entscheidend ist der Grad der Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich, der darin zum Ausdruck kommt. Deutsche und Franzosen sind endlich soweit, in einem so wichtigen Punkt wie der Irak-Krise zu einer gemeinsamen Position zu kommen. Für noch wichtiger halte ich allerdings das Einschwenken Rußlands beim Treffen Chiracs und Putins am Montag in Paris auf die deutsch-französische Linie. Allerdings verlief die „Präsentation“ des Planes erschreckend chaotisch. Wie will man so die für die Durchsetzung nötige diplomatische Schlagkraft gegen die Politik der USA entwickeln? Grossouvre: Das ist natürlich richtig, entscheidend ist aber, daß die deutsch-französische Freundschaft damit endlich eine strategische Dimension gewonnen hat. Der erstaunliche Dilettantismus legt den Verdacht nahe, daß man gar nicht wünscht, Schlagkraft zu entwickeln. Ist es denkbar, daß es sich also nur um ein diplomatisches Feigenblatt handelt? Grossouvre: Natürlich ist das nicht auszuschließen, aber ich glaube, in diesem Fall hätte sich Donald Rumsfeld nicht so erzürnt gezeigt. Welche Rolle spielt die Tatsache, daß dies in Abkehr von den USA geschieht? Grossouvre: Eine erhebliche! Früher war die transatlantische Partnerschaft ein Tabu, besonders in Deutschland mit seiner politisch gleichgerichteten Presse. Die Initiative bedeutet also einen tiefen Einschnitt. Dabei geht es gar nicht um eine völlige Abkehr von den USA, aber wir Europäer müssen lernen, unsere eigenen Interssen zu definieren und zu verfolgen – deshalb halte ich die Formel „Emanzipation von den USA“ für den richtigen Begriff. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Pentagon-Berater Richard Perle gaben sich am Sonntag im deutschen Fernsehen erstaunlich kühl angesichts der historischen Verwerfungen. Grossouvre: Ich glaube nicht, daß die Amerikaner die Situation tatsächlich so locker nehmen, wie Donald Rumsfeld und Richard Perle versucht haben, den Anschein zu erwecken. Tatsächlich halte ich die USA für weniger mächtig, als allgemein angenommen. Und die Amerikaner wissen um diese Schwäche und sind deshalb insgeheim recht nervös. Natürlich stellen sich die USA derzeit unendlich mächtig dar, aber die Welt verändert sich und das nicht unbedingt zugunsten Amerikas. Irritiert Sie denn nicht, mit welcher gewaltigen Drohgebärde die USA über ein so kleines, schwaches, durch ein zehnjähriges Embargo verarmtes und – abgesehen vom Öl – unbedeutendes Land wie den Irak herfallen? Die Vereinigten Staaten haben es nötig, ihre heutige in der Tat machtvolle Position mit Gewalt abzusichern, weil die Zeit nicht für sie spielt – denken Sie an das aufstrebende China und das sich langsam erholende Rußland. Allerdings geht derzeit ein Riß durch Europa . Grossouvre: Einigkeit ist nicht unter allen Umständen das erste Ziel. Früher hatten wir oft Einigkeit in Europa, doch unter transatlantischen Vorzeichen. Erstmals haben wir uns nun eine eigeane europäische außenpolitische Position erarbeitet. Natürlich führt das zunächst zu Uneinigkeit unter den anderes gewöhnten Europäern. Die acht Länder, auf die Sie anspielen, haben dagegen keine eigene Position, es ist schlicht die Haltung der USA in Europa. Nun gilt es, sie für den neuen europäischen Kurs zu gewinnen. Sie selbst sagen für die Zukunft ein neues Europa unter eine Achse Paris-Berlin-Moskau voraus. Dabei handelt es sich um einen alten Traum europäischer Geopolitiker, warum sollte er plötzlich wahr werden? Grossouvre: Die Welt verändert sich, Europa kann es sich nicht länger leisten, den Dornröschenschlaf des Kalten Krieges zu schlafen. In meinem Buch führe ich drei Punkte aus, die allesamt durch einen im Auftrag des EU-Kommissars für Handel, Pascal Lamy – der übrigens zu den Lesern meines Buches gehört – erstellten Bericht des Französischen Instituts für Auswärtige Beziehungen (IFRI) bestätigt werden: Erstens, die katastrophale Geburtenrate in Europa. Ich merke an: Das deutsche Volk zum Beispiel verliert 100.000 Deutsche netto pro Jahr! Zweitens die Gefahr, daß Europa in Wissenschaft und Forschung und dadurch auch wirtschaftlich im Vergleich zu Amerika und Asien marginalisiert wird. Drittens, die Bedrohung, daß sich die noch kleine, im Entstehen begriffene politische Macht Europas unter der Zentrifugalkraft der EU-Erweiterung auflöst. Solch ein Europa ist für Amerika natürlich der ideale Partner, quasi ein riesiges Lichtenstein. Europa aber braucht einen Motor. Frankreich und Deutschland sind verwandte Länder. Paßt Rußland dazu, das eine ganz andere Geschichte hat und zudem politisch instabil ist? Grossouvre: Natürlich sehe ich die Probleme, doch es ist notwendig, eine strategische Partnerschaft mit Rußland aufzubauen, vor allem auf dem Sektor der Energie. Natürlich kann Rußland jetzt nicht wirtschaftlich in die EU aufgenommen werden, dazu ist das Gefälle zu groß, es gilt aber, einen integrativen Prozeß einzuleiten. Im übrigen wird es nicht gelingen, Europa gegen Rußland aufzubauen. Ich möchte auch klarstellen, daß ich es nicht für ausgemacht halte, daß die Bildung einer Achse tatsächlich gelingt. Ich sage nur, es ist notwendig, oder wir werden ins Nichts fallen. Dabei schätze ich die Erfolgschance derzeit auf 30 bis 40 Prozent – mich stimmt aber hoffnungsvoll, daß sich nun schon erste Anzeichen für diese Entwicklung andeuten. Unterschätzen Sie nicht Rußlands Unberechenbarkeit? Grossouvre: Ohne Rußland wäre die Achse amputiert. Denn in der Achse spielt jedes Land eine Rolle, Frankreich hat einen mittelmeerischen und westeuropäischen Auftrag, Deutschland ist das Zentrum Mitteleuropas, Rußland dominiert Osteuropa und stellt unsere Brücke nach Asien dar, wo in Zukunft der neue Super-Pol einer multipolaren Welt entstehen wird. Wenn wir dem etwas entgegensetzen möchten, dann bleibt uns nichts, als in Europa einen eigenen Pol zu schaffen – mit der EU ist das allerdings nicht zu machen. Also die EU auflösen? Grossouvre: Nein, die EU ist eine gute Basis, aber sie ist nicht die Zukunft. Dennoch werden sich die kleinen Staaten sagen: „Lieber mit Amerika, als unter einer Achse“? Grossouvre: Natürlich, aus deren Sicht ist der Einfluß der USA eine gute Sache. Für uns heißt es deshalb, Fakten zu schaffen und durch eine Euro-Achse ein neues Gravitationsfeld zu bilden, dem sie sich nicht entziehen können. Es geht im übrigen aber nicht um einen hegemonialen deutsch-französischen Sonderweg, sondern darum, Europa neu zu inspirieren. Wie kann der nächste Schritt zur Bildung einer Euro-Achse aussehen? Grossouvre: Gerade haben wir den 40. Jahrestag des Elysee-Vertrages gefeiert, doch es wäre an der Zeit, den Vertrag zu revidieren und einen deutsch-französischen Staatenbund anzustreben und so zu erreichen, was General de Gaulle 1949 vorgeschlagen hat: „Wir sollten den Vertrag von Verdun aus dem Jahre 842 aufheben, um die Franken des Westens (Franzosen) und die Franken des Ostens (Deutsche) wiederzuvereinigen.“ Ist es nicht eher wahrscheinlich, daß nach einer Lösung der Irak-Krise die Politik wieder in alte atlantische Bahnen gerät? Grossouvre: Ich glaube, daß in Deutschland noch gar nicht erkannt worden ist, welche Tragweite die Wahlpropaganda vom „Deutschen Weg“ langfristig haben wird. Ich halte das Auftauchen solch neuer Töne für den wichtigsten Einschnitt in der deutschen Geschichte seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Denn, wie gesagt, bislang galt die amerikanische Freundschaft in Deutschland als sakrosankt, plötzlich aber ist es möglich geworden, sie sogar zu Wahlkampfzwecken zu instrumentalisieren. Egal ob Herr Schröder es ernst gemeint hat oder nicht, das ist ein Tabubruch, der die Mentalität prägen wird. Dahinter – zumal in Verbindung mit der deutsch-französischen Verständigung in der Irak-Frage – können die Europäer nicht mehr zurück. Henri de Grossouvre der jüngste Sohn des Mitterrand-Vertrauten und Beraters François de Grossouvre ist Geopolitiker und Autor eines programmatischen Buches über die künftige Achse Paris-Berlin-Moskau. Er studierte Geschichte und Politische Wissenschaft in Straßburg, Paris und Bonn und schreibt für verschiedene französische und österreichische Zeitungen und Magazine. Geboren wurde er 1966 in Lyon, heute lebt er in Wien. 2002 erschien sein Buch „Paris-Berlin-Moscou. La voie de I’indépendance et la paix.“ in der Collection „Mobiles géopolitiques“. weitere Interview-Partner der JF