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Gastbeitrag: Mehr Mumm wagen!

Gastbeitrag: Mehr Mumm wagen!

Gastbeitrag: Mehr Mumm wagen!

AfD-Chef Jörg Meuthen
AfD-Chef Jörg Meuthen
AfD-Chef Jörg Meuthen Foto: picture alliance/Fabian Sommer/dpa
Gastbeitrag
 

Mehr Mumm wagen!

Im Chaos sehnt sich der Mensch nach Ordnung, Orientierung, Halt und Bindung. Doch die typischen Institutionen, die hier eigentlich Abhilfe leisten sollten, versagen: etwa die Kirchen, die als verlängerter Arm der Politik ihrem spirituellen Auftrag nur noch eingeschränkt nachkommen. Ein Kommentar von AfD-Chef Jörg Meuthen.
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Wenn ich durch die Straßen meiner Heimatstadt gehe, sehe ich den massiven Substanzverlust, den mein Land in den letzten Jahrzehnten erlitten hat. Das Vulgäre, Dreckige, Chaotische, Unverschämte scheint Hochkonjunktur zu haben, im Großen wie im Kleinen. Umgangsformen und Ästhetik spielen keine Rolle mehr. Dekadenzphänomene und kollektiver Disziplinverfall sind Folgen des allgegenwärtigen moralischen Relativismus.

Dieser moralische Relativismus ist für den Konservativen besonders unerträglich, denn der Konservative pocht auf Ordnung und Orientierung und hat einen klaren moralischen Kompaß. Für ihn gibt es Richtig und Falsch, Recht und Unrecht. Und deshalb hat er den Mut, Mißstände zu benennen, wenn er die Zerstörung des Lebens und der Ordnung durch mutwillige Eingriffe und inneren Verfall befürchtet.

Genau das macht den Konservativen seit Jahrzehnten in einem von linken Kulturhegemonen dominierten Umfeld zum Außenseiter. Denn die vom Linken wie eine Monstranz vor sich hergetragene Toleranz gilt selbstredend nur für Gleichgesinnte, nicht für Konservative. Für den Linken ist jede Moral relativ. Recht oder Unrecht, Richtig oder Falsch – all das gibt es für den Linken nicht. Alles kann. Nichts muß. Anything goes. Alles ist relativ, gleichberechtigt und unverbindlich. Alles ist vorgeblich gleich. Zivilisatorische Unterschiede werden geleugnet. Jede noch so archaische Lebensweise wird wie selbstverständlich auf eine Stufe mit europäischer Hochkultur gestellt.

Angst vor dem Verlust der eigenen Kultur

Die logische Konsequenz daraus ist eine inhärente Abwertung des Eigenen, das man nicht mehr zu verteidigen bereit ist, und eine Aufwertung des Fremden, das aus werterelativistischer Logik heraus zumindest gleichwertig sein muß. Wozu und wofür noch kämpfen, wenn man sich selbst derart degradiert? Dieses Denken deimmunisiert gegen Gefahren – gegen die im Inneren wütenden wie die von außen drohenden.

In einem solchen Umfeld kann der bedingungslose Multikulturalismus prächtig gedeihen – und verunmöglicht mehr und mehr eine gesellschaftliche Ordnung, wie sie dem Konservativen vorschwebt. Der fürchtet um Verlust seiner Kultur, und seine Befürchtungen sind heute berechtigter denn je.

Kulturen wachsen über mehrere Generationen, über Mythen, Traditionen, Schicksale, selbst Erlebtes und Überliefertes. Das gibt ihnen Sinn, Ordnung, Orientierung und die notwendige Identität.

Irenäus Eibl-Eibesfeldt hat richtigerweise darauf aufmerksam gemacht, daß Menschen große Vertrauensvorschüsse brauchen, um im Alltag kooperieren und friedlich zusammenleben zu können. Und diese Vertrauensvorschüsse gibt es nur dann, wenn man sich auf vertraute Umgebungen, Gepflogenheiten, Traditionen, Sitten und Bräuche verlassen kann. Auf Regeln und Normen, über die allgemeiner und unausgesprochener Konsens besteht. Gilt das heute noch? Es ist im schrittweisen Verschwinden begriffen.

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Das liegt an der zunehmenden, von den vorherrschenden Multikulturalisten systematisch vorangetriebenen völligen Heterogenität der Gesellschaft und dem mangelnden Mumm der Autochthonen, die aus Gründen devoter Kultursensibilität das Eigene zum Maßstab nicht zu erheben bereit sind.

Eine Kultur läßt sich nun mal nicht auf ein kleines Set ethisch-moralischer Grundsätze reduzieren, das ein paar simple Verhaltensregeln beinhaltet, an die sich alle zu halten haben, egal wie und wo sie sozialisiert worden sind. Aber genau das ist der weit verbreitete naive Irrglaube. Kulturen sind komplex. Diese Komplexität äußert sich in Regeln, Normen, Anschauungen, die allgemein und unausgesprochen geteilt werden und die eben nicht täglich neu ausgehandelt werden müssen, wie es linke Politiker wie etwa Aydan Özoğuz ernsthaft verlangen. Das zeichnet funktionierende Vertrauensgesellschaften aus.

Multikulturelle Gesellschaften hingegen zeichnen sich durch immer größeres Mißtrauen aus, weil die Menschen sich nicht mehr sicher sein können, ob ihre Regeln, Normen und Auffassungen auch von den Mitmenschen geteilt werden. Formal mögen in Hamburg-Blankenese dieselben Regeln gelten wie in Duisburg-Marxloh, informell verhält es sich aber anders. Und gesamtgesellschaftlich nehmen diese Disparitäten zu. Die aufkommenden Parallelgesellschaften, die die bestehende Ordnung in Frage stellen, sind ein Beleg hierfür.

Das sind die Kehrseiten von Multikulti, das gerne auf die türkische Dönerbude, das italienische Restaurant, die arabische Shishabar, die indische Yogaschule, den Latino-Tanzkurs, afrikanische Musik und sonstige exotische Folklore und Banalitäten reduziert wird. Mag ja alles ganz nett sein, ist aber eine romantische Verklärung, die ignoriert, daß multikulturelle Gesellschaften im Kern Mißtrauensgesellschaften sind, in denen die gesellschaftliche Komplexität überstrapaziert, das soziale Kapital verzehrt wird und Konflikte vorprogrammiert sind.

Entsolidarisierung der Gesellschaft

Entgegen all den beschönigenden Beschwichtigungen des multikulti­berauschten Establishments merken das immer mehr Menschen. Berlin darf nicht Bagdad werden, und doch ist es das zuweilen leider schon. Die Lage wird immer chaotischer. Und im Chaos sehnt sich der Mensch nach Ordnung, Orientierung, Halt und Bindung. Doch die typischen Institutionen, die hier eigentlich Abhilfe leisten sollten, versagen oder werden systematisch obsolet gemacht: etwa die Kirchen, die als verlängerter Arm der Politik ihrem spirituellen Auftrag allenfalls noch sehr eingeschränkt nachkommen. Oder aber die Familien als eigentliche Keimzelle der Gesellschaft, deren Funktionen durch einen omnipräsenten Staat sukzessive und durchaus gezielt ausgehöhlt werden.

Durch die Allgegenwart des mächtigen Staates gerät das gesunde Gleichgewicht zwischen Institutionen wie der Familie, der Kirche und eben dem Staat aus dem Gleichgewicht. Der Fehler der meisten Konservativen besteht darin, im Staat nicht die Quelle des Problems, sondern seine Lösung zu sehen.

Die in Kontinentaleuropa vorherrschende Staatsgläubigkeit bewirkt aber letztlich nichts anderes als eine Entsolidarisierung der Gesellschaft, eine Erosion christlicher und konservativer Werte wie der Nächstenliebe, eine massive Ressourcenverschwendung durch Ausschaltung des Preismechanismus und eine Schwächung der Familienbande und anderer natürlich gewachsener Institutionen und Beziehungen. Dies, weil alle sich nur noch auf den Staat verlassen, nicht mehr auf sich selbst und die Nächsten – also ihre eigentlichen sozialen Bindungen.

Zerfall der Familie

Als Vater und inzwischen auch Großvater erscheint mir der letztgenannte Mißstand besonders beklagenswert: der Zerfall der Familie als wünschenswertes gesellschaftliches Leitbild. Dazu muß man etwas ausholen:
Über Hunderttausende Jahre lebten die Menschen in kleinen Horden von Jägern und Sammlern, in Sippen- und Stammesgesellschaften, in denen sich jeder kannte. Es galten dort natürliche Hierarchien und Regeln, anders hätte man kaum überleben können. Dazu gehörte auch das Teilen der Beute. Alles Verhaltensweisen, die sich tief in unsere Instinkte und unser genetisches Erbe eingeprägt haben.

Das waren überschaubare Gemeinschaften der vormodernen Zeit. In der Gegenwart ist vieles komplexer. Wir leben nicht mehr in einer, sondern in zwei Welten – einerseits in der warmen kleinen, uns vertrauten Welt der Familie und Freunde, in der unsere urzeitlichen Verhaltensmuster nützlich und sinnvoll sind, andererseits in der kalten großen und anonymen Welt der Arbeitsteilung, in der völlig andere Regeln und Verhaltensweisen gefragt sind.

Menschheitsgeschichtlich umfaßt dieses Leben in zwei Welten nur einen kleinen Zeitraum, bereitet uns große Schwierigkeiten und erweist sich zuweilen besonders dann als verhängnisvoll, wenn wir unsere atavistischen Neigungen, die Regeln der kleinen, warmen, vertrauten Welt der Familie und Freunde auf die große, kalte, anonyme Welt der arbeitsteiligen Großgesellschaft übertragen wollen. Das ist ein tief verwurzelter Steinzeit-Instinkt, der wohl den weit verbreiteten und verhängnisvollen Hang vieler Menschen zu sozialistischen Gesellschaftsexperimenten erklärt.

Nicht reflexhaft nach dem Staat rufen

Die größte Paradoxie der Linken ist, daß sie die anthropologischen Voraussetzungen des Menschen insgesamt verneinen, während sie gleichzeitig ausschließlich ihren steinzeitlichen Instinkten folgen, indem sie die Regeln der überschaubaren Stammesgesellschaft auf die großräumig arbeitsteilige Gesellschaft übertragen sehen wollen.

Die Krux an der Sache besteht darin, daß jede der zwei Welten zerstört wird, sobald man die Verhaltensregeln der jeweils anderen auf sie überträgt – ein großes Dilemma der modernen Zeit, auf das der hier von mir paraphrasierte Ökonom Friedrich August von Hayek in Anlehnung an den bereits oben erwähnten Irenäus Eibl-Eibesfeldt aufmerksam machte. Die Kälte der großen Welt würde jede Familie und jede Freundschaft zugrunde richten. Die Wärme der kleinen Welt jede Großgesellschaft. Der Konservative muß lernen, gleichzeitig in beiden Welten zu leben. Er darf nicht reflexhaft nach dem Staat rufen, um seine Ziele zu erreichen, denn dann macht er am Ende nur das kaputt, was er erhalten will.

Den Fehler haben die Linken – einschließlich der Bundeskanzlerin und ihrer Regierung – in der Migrationskrise bereits gemacht: Sie wandten im Zuge der Migrationskrise „warme“ Regeln der Solidarität an, um dem Vorwurf der Kaltherzigkeit zu entgehen, wo kühle Rationalität notwendig gewesen wäre. Es liegt tief verwurzelt im Steinzeit-Instinkt der Menschen, nicht als kaltherzig gelten zu wollen. Das führt zuweilen dazu, daß es für Menschen, die die Regeln der warmen Welt in die kalte übertragen, wichtiger ist als gut zu gelten, als tatsächlich Gutes zu tun.

Optimismus ist Pflicht

Die ethisch, logisch, rechtlich, ökonomisch, politisch und kulturell völlig irre Vorstellung, daß man Sozialstaat bei gleichzeitig für alle offenen Grenzen vereinbaren könnte, wird nicht als irre erkannt, sondern als menschlich und alternativlos empfunden, und wer dies anders sieht, ist ein kaltherziger Rechtsextremist, Faschist, Nazi, Menschenfeind. So suhlt man sich in linken Lebenslügen und merkt gar nicht, wie aus der bunten, toleranten, friedlichen Welt, nach der man sicht sehnt, eine burkaschwarze, intolerante und konfliktträchtige wird.

Die Linken sind dabei, ihre Wunschwelt zu verlieren, weil sie es nicht schaffen, gleichzeitig in beiden Welten zu leben, weil sie ausschließlich die Regeln der warmen auf die kalte Welt übertragen – gut, im Kampf gegen Rechts machen sie vielleicht eine Ausnahme. Das ist die Ignoranz des Instinkts, der aus der Steinzeit kommt. Den Konservativen droht ein ähnliches Schicksal.

Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten zu einem gigantischen Laboratorium linker Sozialingenieure geworden. Die Frage, die sich stellt, ist, ob dieser Substanzverlust irreversibel ist. Die Mißtrauensgesellschaft samt all ihren Prämissen. Die Dekadenzerscheinungen und der Disziplinverfall. Die Schwierigkeit, in zwei Welten zu leben. Das Chaos und die Orientierungslosigkeit. Als konservativer Politiker muß man das verneinen, denn wozu sollte man sonst Politik machen? Optimismus ist Pflicht.

Doch wäre dieser Optimismus sicherlich größer und vor allem begründeter, wenn man mehr mutige Mitstreiter an der Seite hätte. Menschen, die etwas riskieren, die sich nicht wegducken in ihren noch bestehenden Wohlfühl-Kleinräumen. Wahre Konservative. Nicht solche, die diesen Substanzverlust sehen, trotzdem nichts machen, die Wasser predigen und Wein trinken, die links reden und rechts leben, weil sie sich nicht aus ihrer Komfortzone heraustrauen. Der traditionell risikoaverse Konservative muß über seinen Schatten springen, wenn es ihm um die Sache geht. Ihm täte ein bißchen Mut zur Rebellion bitter not. Ohne wird das nichts mehr.

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Prof. Dr. Jörg Meuthen, Jahrgang 1961, Wirtschaftswissenschaftler, ist seit 2015 einer von zwei Bundessprechern der AfD und seit 2017 Abgeordneter im Europäischen Parlament.

JF 51/19

AfD-Chef Jörg Meuthen Foto: picture alliance/Fabian Sommer/dpa
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