Im Jahr 1998 veröffentlichte der Publizist Konrad Adam ein Buch, das den Titel trägt „Die Republik dankt ab. Die Deutschen vor der europäischen Versuchung“. Heute, circa sieben Jahren später, droht Adams düstere Prognose Realität zu werden. Die Deutschen oder die Abgeordneten, die den Volkswillen repräsentieren, scheinen tatsächlich der „europäischen Versuchung“ in Gestalt der EU-Verfassung zu erliegen. Der Bundestag hat dem Verfassungsvertrag der Europäischen Union bereits zugestimmt. Für die EU-Verfassung votierten in namentlicher Abstimmung 569 Abgeordnete. Dagegen stimmten gerade einmal 23 Parlamentarier, und zwei enthielten sich. Dieser erste Teil der Ratifizierung wird mit der absehbar sicheren Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundesrat am 27. Mai abgeschlossen werden. Daß ein Teil der Abgeordneten augenscheinlich nur unzureichend oder gar nicht über die kardinalen Bestandteile der EU-Verfassung informiert war, konnte das ARD-Politikmagazin „Panorama“ deutlich machen. Es ist im übrigen nicht das erste Mal, daß diejenigen, die vorgeben, den politischen Willen des Volkes repräsentieren zu wollen, bestenfalls rudimentäre Ahnung von dem haben, worüber sie zu entscheiden haben. Wie immer vor weitreichenden EU-Vorhaben wurde von den Abgeordneten des Bundestages „ein klares Bekenntnis“ verlangt, das im Kern an Nötigung grenzt. „Wer mehr Demokratie will in Europa, muß für diese Verfassung stimmen“, sagte Bundeskanzler Schröder in einer Regierungserklärung. Außenminister Fischer behauptete, „wer Frieden will, muß Ja sagen zu einem erweiterten Europa und zur EU-Verfassung“. Mit anderen Worten: Wer nicht für die EU-Verfassung stimmt, der nimmt einen möglichen Krieg in Kauf. Wo findet sich in diesem Vertrag das von Schröder avisierte „Mehr an Demokratie“? Von der Papierform her will der EU-Vertrag eine vernünftige Verteilung der Zuständigkeiten erreichen und betont den Vorrang der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit bei Entscheidungen. Zum Streitpunkt ist vor allem das in Artikel 5 fixierte Prinzip der „begrenzten Ermächtigung“ geworden, das in seiner Reichweite unklar bleibt. Nicht zu Unrecht konstatierte deshalb der Erlanger Jurist Karl Albrecht Schachtschneider, daß diese „Ermächtigung“ „insgesamt eine nicht voraussehbare Politik ermöglicht“. In die ausschließliche Kompetenz der EU-Institutionen fällt mit Inkrafttreten der EU-Verfassung zum Beispiel die Währungspolitik. Die Wettbewerbsregeln im Binnenmarkt und die gemeinsame Handelspolitik verbieten Initiativen der Mitgliedstaaten ohne ausdrückliche Genehmigung der EU. Wohin die Reise geht, läßt die Verpflichtung auf den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ erahnen. Es wird ein „Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ angestrebt, mit einem freien „Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sowie Niederlassungsfreiheit“. Auch das Prinzip des uneingeschränkten Freihandels wird Verfassungsauftrag, steht doch in Artikel III-193 zu lesen, daß es das Ziel der Außenpolitik sei, „die Integration aller Länder in die Weltwirtschaft (…) unter anderem auch durch den allmählichen Abbau von Beschränkungen des internationalen Handels“ herbeizuführen. Die Anprangerung des Lohndumpings, die sich die SPD rechtzeitig vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen auf das Panier geschrieben hat, ist mit der Zustimmung der Sozialdemokratie auch zu diesem Paragraphen als das entlarvt, was es immer schon war, nämlich als plumpe Wahlkampf-Rhetorik, die nach dem 22. Mai schnell wieder vergessen sein wird. Die Privatisierung öffentlicher Dienste darf in diesem Zusammenhang natürlich nicht fehlen. Gemäß Artikel III-55-58 wird den EU-Mitgliedstaaten untersagt, den öffentlichen Dienst besonders zu fördern oder staatliche Beihilfen zu gewähren. Der EU-Kommission werden hier weitreichende Kompetenzen eingeräumt. Selbst die Sicherung der „kulturellen Vielfalt“ wird relativiert und bleibt der Beihilfekontrolle unterworfen. Nicht vorgesehen ist die immer wieder angemahnte Angleichung direkter Steuern, besonders der Unternehmenssteuern. Daß ein anderer hochsensibler Bereich, nämlich die Verteidigungspolitik, ebenfalls scheibchenweise an Brüssel delegiert werden soll, zeigt die geplante Errichtung eines Europäischen Amtes für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten. Dieses Amt soll zum Beispiel Maßnahmen zur „Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors beitragen“ und diese „Maßnahmen eventuell auch durchführen“. „Zur Wahrung der Werte der Union und im Dienste ihrer Interessen“ kann der EU-Ministerrat eine „Gruppe von Mitgliedstaaten“ mit „der Durchführung einer Mission“ beauftragen, die auch außerhalb der Union stattfinden kann. Von all diesen komplexen Konsequenzen wissen viele Abgeordnete des Deutschen Bundestages möglicherweise wenig bis gar nichts. Sie haben ihrer weitgehenden Selbstentmachtung zugestimmt. Viel schwerer aber wiegt, daß mit ihrer Zustimmung zur EU-Verfassung auch der eigentliche Souverän, nämlich das deutsche Volk, entmachtet worden ist. Dies kann nicht anders denn als Staatsstreich von oben bezeichnet werden.