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An das Töten gewöhnen

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Zwei Paukenschläge machten unsere von Zukunftsängsten geplagte, alternde Gesellschaft in den letzten Wochen darauf aufmerksam, daß wir vor neuen, lebenswichtigen Fragen stehen: In Hannover eröffnete der Schweizer „Sterbehilfe-Verein“ Dignitas seine erste Filiale in Deutschland, und in Hamburg forderte wenige Tage darauf der dortige Justizsenator Roger Kusch (CDU): „Der Staat muß den Wunsch nach Sterbehilfe respektieren.“ Unsere Gesellschaft altert, der familiäre, soziale Zusammenhalt zwischen den Generationen löst sich zunehmend in unverbindliche Beziehungen auf. Wer sollte, wer könnte, wer wollte zukünftig die kinderarme – und teilweise gar kinderlose – Generation noch pflegen, wenn wir immer älter und kränker, unsere Betreuung immer pflegeintensiver wird? In dieser Atmosphäre der Verunsicherung und latenten Ängste wirbt Dignitas für die „aktive Begleitung“ in den Tod. Schon fünf Vereine mit ähnlichem Profil entvölkern inzwischen die Schweiz und haben sie auch in dieser Hinsicht zu einem touristischen Reiseziel werden lassen. Bei Dignitas sind rund die Hälfte der „Nutzer“ Deutsche, der Schritt des Vereins nach Norden war also nur folgerichtig. Immerhin kommentierte der Bundespräsident die Eröffnung indirekt mit einem Besuch bei der Hospizbewegung und seiner Mahnung, daß Menschen an der Hand eines anderen und nicht durch dessen Hand sterben sollten. Dessenungeachtet fordert der stets jugendlich wirkende Senator Kusch, die Anpassung der Gesetzgebung an die „gesellschaftliche Wirklichkeit“ als eine Pflicht des Gesetzgebers. Irgendwie kommt uns diese Argumentation doch bekannt vor … Richtig, so sollte doch schon einmal in den vergangenen Jahrzehnten die Zahl der Abtreibungen gesenkt werden! Und in der Tat: Der Senator weist in seiner Argumentation ausdrücklich auf diese Parallele hin – wofür man ihm eigentlich dankbar sein müßte. Seitdem 1974 der Paragraph 218 verabschiedet wurde, kommt nämlich allein das Statistische Bundesamt auf mindestens 4,3 Millionen Abtreibungen, seriöse Schätzungen gehen aber noch von einer weit höheren Dunkelziffer aus. Die Gesellschaft hat sich dank flächendeckender Beratungs- und Abtreibungsangebote und steuerlicher Finanzierung dieses Tötungsgeschehens daran gewöhnt, daß jedes beginnende menschliche Leben erst einmal zur Disposition gestellt werden kann. Die Praxis der hundertfachen jährlichen Spätabtreibungen fügt dem noch weiteres gravierendes Unrecht hinzu, indem inzwischen zahlreiche, auch leichtere Behinderungen als Anlaß dafür gelten, daß ein ungeborener Mensch noch bis zur Geburt legal getötet werden kann. Dies kann auf längere Sicht nicht ohne Folgen bleiben und korrumpiert inzwischen das Rechts- und Verantwortungsbewußtsein vieler Menschen. In den Niederlanden zum Beispiel werden Babys, Kleinkinder und Minderjährige unfreiwillige Opfer der aktiven Sterbehilfe. Über 25 Prozent aller von Sterbehilfe Betroffenen haben dort nachweislich nie das Verlangen nach aktiver Beendigung ihres Lebens geäußert. Es wurde für sie entschieden, weil andere glaubten, es sei so viel besser für sie. Wie viele andere Kranke in Belgien, der Schweiz oder in den Niederlanden haben sie nur deshalb um Euthanasie gebeten, weil sie vor allem davor Angst hatten, allein zu sein in ihrer Krankheit oder den anderen weiter zur Last zu fallen und hohe Kosten zu verantworten. Sicher, aus Sicht der Befürworter ist es nur konsequent, für Paragraph 216 (Tötung auf Verlangen) eine „Lösung“ zu finden, wie dies bei Paragraph 218 „gelungen“ ist. Doch der Schritt von der passiven zur aktiven Sterbehilfe ist nicht, wie Kusch und einige andere meinen, lediglich ein unwesentlicher: für die Menschen, unsere Gesellschaft und für das unantastbare Recht auf Leben ist es ein tiefer Graben, den wir nicht ohne gefährlichen Schaden für unser aller Zukunft überspringen können. Wenn unser Lebensrecht und die Berechtigung zu leben, geschützt, begleitet, behandelt und getröstet zu werden, davon abhängig gemacht werden, ob sich unser Leben in unseren eigenen Augen oder gar in den Augen der anderen noch „lohnt“, es noch „Lebensqualität“ hat, werden wir es schneller verlieren, als wir uns das heute vorstellen können. In den Niederlanden gehört inzwischen bereits starke Depression oder fundierte Angst vor einer schweren Erkrankung zu den legal akzeptierten Bedingungen, Sterbehilfe zu beantragen. Und in vielen Fällen liegt zwischen Antrag und Durchführung weniger als eine Woche, obwohl das Gesetz einen Monat vorschreibt. Auch Mitgefühl macht aus aktiver Sterbehilfe keine ethisch verantwortbare Tat. Wer wirklich menschenwürdiges Sterben begleiten will, findet in den Hospizen und in der Palliativmedizin die christlichen und humanen Hilfen, die Leben auch mit dem Tod akzeptieren können. Hier sind politische Signale und Unterstützung für eine gesellschaftliche Gegenbewegung gefragt, nicht die Offerte einer reibungslosen und schnelleren Beendigung des Lebens durch dubiose kommerzielle Sterbehilfevereine oder gar Ärzte. Mechthild Löhr ist Bundesvorsitzende der Lebensrechtsorganisation Christdemokraten für das Leben (CDL) und Mitherausgeberin des Buches „Sterben in Würde“ (Verlag Sinus, 2004).

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