In der allgemeinen Wahrnehmung ist Peter Hartz längst vom wegweisenden Arbeitsmarktreformer zum bösen Onkel mutiert. „Hast Du mehr als 100 Le-gosteine?“ fragte die Bild-Zeitung bereits, als ruchbar wurde, daß Sparguthaben der Kinder von Arbeitslosen zum Teil verbraucht werden müssen, bevor das neue Arbeitslosengeld II gezahlt wird. Wegen Hartz sollen Arbeitslose nicht nur ihre Datschen aufgeben müssen, sondern auch ihre angeblich zu großen Wohnungen räumen, was die Vermieter von leerstehenden Plattenbauwohnungen bereits jubeln läßt. Sie warten auf neue Mieter. Schon ist allenthalben von Ghettobildung die Rede. Der Name Hartz scheint die Republik zu verändern. Dabei war der Grundgedanke von Hartz IV gar nicht so schlecht. Derzeit verwalten zwei staatliche Stellen die Langzeitarbeitslosen. Die Sozialämter sind für die Empfänger von Sozialhilfe zuständig, die Arbeitsämter für die Arbeitslosen. Wer Beiträge eingezahlt hat, erhält für eine begrenzte Zeit Arbeitslosengeld. Danach gibt es Arbeitslosenhilfe. Die Hartz IV zugrunde liegende Idee war nun, die arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger und die Bezieher von Arbeitslosenhilfe in einem neuen System zusammenzufassen. Diese Forderungen wurden nicht nur von den Regierungsfraktionen SPD und Grüne vertreten, sondern auch von der CDU/CSU-Opposition. Im Vermittlungsausschuß von Bundestag und Bundesrat setzte sich die Regierung aber in einem wichtigen Punkt durch: Die Bezieher des neuen Arbeitslosengeldes II werden künftig von der Bundesagentur für Arbeit betreut. Die Opposition wollte statt dessen dem Moloch Nürnberg einen Teil der „Kundschaft“ entziehen und die Verantwortung an die Städte und Gemeinden delegieren. Im Vermittlungsausschuß triumphierte jedoch der Glaube an große staatliche Einrichtungen. Das Subsidiaritätsprinzip, nach dem stets die unterste Stelle, die die Aufgaben erledigen kann, dies auch tun soll, wurde mißachtet. Grundsätzlich gesehen wäre es sinnvoll gewesen, den Städten und Gemeinden die Verantwortung für die Bezieher von Arbeitslosenhilfe zuzuweisen. Die Bundesagentur für Arbeit war damit schon seit Jahren überfordert. Die Mammutbehörde schuf nur ein dichtes Netz von Qualifizierungseinrichtungen, in denen sich Arbeitslose die Zeit wenig sinnvoll vertreiben, um anschließend weiterhin arbeitslos zu bleiben. Städte und Gemeinden hätten versuchen können, diese Menschen wenigstens für gemeinnützige Tätigkeiten einzusetzen, und sei es nur für das Säubern von öffentlichen Straßen und Grünanlagen. Überdies hätten örtliche Sozialämter besser gegen den offenbar weitverbreiteten Betrug beim Bezug von Arbeitslosenhilfe vorgehen können. Was jetzt passiert, ist eine der größten bürokratischen Umwälzungen in der Bundesrepublik seit 1949, aber keine wirksame Reform des Arbeitsmarktes. Daß Tausende von ehemaligen Telekom-Mitarbeitern mit „Buschzulagen“ in die neuen Länder entsandt werden, hat den Gegensatz zwischen alten und neuen Ländern wieder verschärft. Die von der Bundesagentur verschickten Fragebögen haben zu einer tiefen Verunsicherung geführt. Längst hat sich der Eindruck vom raffgierigen Staat durchgesetzt, der den Menschen ihr Erspartes wegnehmen will. Besonders betroffen sind ältere Arbeitslose, die zwar arbeiten wollen, aber keine Stelle mehr finden. Ein anderer Teil der Gesellschaft, der es sich schon lange in der sozialen Hängematte gemütlich gemacht hat, ist fein raus: Wer nichts gespart, sondern alles verpraßt hat, braucht Hartz IV nicht zu fürchten. Das ist das eigentliche Problem der Reform. Anständige Bürger, die ohne eigenes Verschulden arbeitslos geworden sind, sehen sich plötzlich in den Klauen einer Sozialbürokratie, die im Unterschied zu früheren Wohlstandszeiten nicht mehr gibt, sondern nimmt, was sie kriegen kann. Irgendwelche Perspektiven für den Arbeitsmarkt verbinden sich mit der Reform nicht. Die „Zeitenwende“ auf dem Arbeitsmarkt, die Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) erwartet, wird nicht kommen. Die kleinen Korrekturen bei der Anrechnung von Sparguthaben von Kindern, die SPD-Chef Franz Müntefering angekündigt hat, lösen das Problem nicht. Es handelt sich dabei um das schon aus Bonner Zeiten bekannte Herumdoktern an Symptomen, während die eigentlichen Ursachen nicht angegangen werden. Die eigentlichen Ursachen sind die fortschreitende Deindustralisierung und gleichzeitige Bürokratisierung in Deutschland. Es ist schon erstaunlich, daß östliche Nachbarländer wie Polen und Tschechien hohe Wachstumsraten aufweisen, während in der Bundesrepublik Stagnation herrscht und die neuen Länder unter massivem Bevölkerungsschwund leiden. Die bisherigen Reformen von Rot-Grün, ob im Bereich Steuern oder Gesundheit, waren erfolglos. Hinzu kommt eine um sich greifende Lethargie. Sie ist längst eine der Hauptursachen der „deutschen Krankheit“. Wirtschaftspolitik, so pflegte Ludwig Erhard zu sagen, bestehe zur Hälfte aus Psychologie. Eine Regierung, die Aufbruchstimmung vermittelt, kann mehr bewirken als eine halbherzige Steuerreform. Doch das Kabinett von Gerhard Schröder liegt wie eine Bleiplatte auf Deutschland.
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