Wir bedürfen neuer Formen der Erinnerung, die den Kindern von Einwanderern gerecht werden. Auf dieses Resümee bringt Viola B. Georgi im Interview mit der „tageszeitung“ die Ergebnisse ihrer Studie über „Geschichtsbilder junger Migranten“, die vor kurzem in der Hamburger Edition, dem Verlag des von Jan Philipp Reemtsma begründeten Think Tanks, erschienen ist. Ihre Problemstellung ist durch die demographische Entwicklung vorgegeben. Schon 1997 konnte jedes fünfte Kind, das in Deutschland aufwuchs, von sich sagen, daß wenigstens ein Elternteil einen Migrationshintergrund hätte. Man darf davon ausgehen, daß dieses Phänomen über kurz oder lang zur Standardbiographie junger Deutscher gehören wird – insbesondere, wenn man dann auch noch die Großelterngeneration in die Betrachtung einbezieht. Welche Auswirkungen hat dies aber auf das alltägliche Empfinden von Scham und Verantwortung angesichts der Untaten früherer Bewohner dieses Landes? Viola B. Georgi ist hier grundsätzlich optimistisch. Die Abkömmlinge der Migranten ziehen sich in der Regel nicht auf die bequeme Ausflucht zurück, daß ihre Väter und Großväter damit nichts zu tun gehabt hätten, weil sie zu dieser Zeit ja noch nicht in Deutschland gewesen seien. Sie erkennen, daß „der Holocaust für die Frage ihrer eigenen Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft zentral“ ist. „Sie wollen als Mitglied dieser Gesellschaft akzeptiert werden, deshalb machen sie sich auch deren Geschichte zu eigen.“ Wirklich überraschen kann dieser Integrationserfolg allerdings nicht. Schon in der bundesrepublikanischen Vergangenheit hätten sich die Jugendlichen mit damals noch vollständig „deutscher Abstammung“ auf den Standpunkt stellen können, daß die Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus größtenteils nicht unmittelbar in die Verbrechen verstrickt gewesen wären und ihnen als Nachgeborenen per se niemand einen Vorwurf machen könne. Sie haben diesen Weg in ihrer Mehrheit aber nicht gewählt. Warum sollten die Kinder der Migranten es ihnen hier nicht gleichtun? Weil sie noch weniger als gar nicht involviert wären? Vor allem aber sollte die Euphorie von Viola B. Georgi nicht zu einer übereilten Entwarnung Anlaß geben. Sie weist selbst darauf hin, daß wir eine Relativierung und Trivialisierung fürchten müssen und sich eine Historisierung als unausweichlich abzeichnet. Um so unverständlicher ist, daß sie die Verwässerung einer aus der Abstammung abgeleiteten Verantwortung für das Geschehen zu einer „moralischen Erinnerungsgemeinschaft“ hinnimmt. Hier trübt ihr Affekt gegen ethnisch und kulturell definierte Identitäten den Sinn für das Notwendige. Wir werden unsere Verantwortungskultur nämlich nur dann bewahren können, wenn wir die Kinder der Migranten von einem überzeugen: Hergekommen – mitgefangen. Wer auch bloß einen deutschen Vorfahren hat oder sich in diesem Land gar nur zu Hause fühlt, trägt die gleiche Verantwortung wie alle anderen Einwohner auch.