Blattmacher kennen das Rezept: „Sex sells!“ Will heißen: Sex verkauft sich gut, vor allem die Kombination Sex und Kirche ist gut für die Auflage. So war es unter Papst Benedikt XVI, und so ist es auch unter seinem Nachfolger Franziskus. Mit einem Unterschied: Jorge Mario Bergoglio, der Pontifex aus Argentinien, wird als „Revolutionär“ gefeiert, als „Reformator“, als Tabubrecher, der einen „historischen Kurswechsel“ in der katholischen Sexualmoral eingeleitet habe.
Aus einem ungewöhnlich langen Interview der Jesuiten-Zeitschrift La Civiltà Cattolica haben sich Medien mit verdächtigem, effekthascherischen Eifer und Pathos eine Passage herausgepickt und, ohne den Kontext zu beachten, eine Abgrenzung des aktuellen Kirchenoberhauptes von Vorgänger Joseph Ratzinger konstruiert. Diese gewagte Deutung schaffte es auf die Titelseiten so genannter Qualitätszeitungen. „Wir können uns nicht nur mit der Frage um die Abtreibung befassen, mit homosexueller„Ehe, mit den Verhütungsmethoden.“ So lautet ein Kernsatz des Interviews, auf den sich so viele vermeintliche Experten stürzten.
Und wer wollte seinem Urheber ernsthaft widersprechen? Eine revolutionäre Aussage von historischem Gewicht? Klar, der lateinamerikanische Jesuit auf dem Stuhle Petri legt großen Wert auf die soziale Dimension des Evangeliums. Das ist eine nachvollziehbare Konsequenz aus seinen Erfahrungen als ehemaliger Erzbischof von Buenos Aires, begründet aber keinen Gegensatz zu seinem Vorgänger. Kurz ist das Gedächtnis mancher Zeitgenossen.
Barmherzigkeit als Schlüsselwort
War es nicht Benedikt, der einstige „Panzerkardinal“, der kurz nach seinem Amtsantritt im April 2005 das Klischee von einer ausschließlich auf Verbote fixierten Kirche zu zertrümmern suchte? Das Christentum, der Katholizismus, erklärte der Deutsche unter ähnlichem Applaus wie jetzt für den Argentinier Franziskus, sei nicht eine Ansammlung von Verboten, sondern eine positive Option, „ein Auftrag an uns, daß wir deutlicher machen, was wir denn positiver wollen“.
Franziskus sagt es nur pastoraler als der Dogmatiker Ratzinger, er fordert den Klerus auf, Diener der Barmherzigkeit zu sein. Barmherzigkeit ist ein Schlüsselwort seines Pontifikats. Die Kirche brauche die Fähigkeit, Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen. Aber Franziskus distanziert sich nicht von den Ansichten der Kirche zu den bekannten Reizthemen, er bricht auch nicht, wie könnte er auch, mit Dogmen.
Selbst die romkritische Süddeutsche Zeitung hält fest, daß der Papst nichts zurückgenommen oder geleugnet hat, was seine Kirche über Sexualität außerhalb der Ehe, über künstliche Verhütung oder Homosexualität sagt. Ihm geht es vielmehr um die richtige Reihenfolge. Um die „Hierarchie der Wahrheiten“, von der das Zweite Vatikanum sprach. Die Verkündigung der Liebe Gottes müsse der moralischen und religiösen Verpflichtung vorausgehen. Erst der Glaube, dann die Moral, Moral ergibt sich aus dem Glauben. Eine missionarische Verkündigung muß sich auf das Wesentliche konzentrieren, die Botschaft der Erlösung hat absolute Priorität.
Die Kirche bleibt eine Heilsgemeinschaft
Der Pontifex aus einem „fernen Land“, wie sich Jorge Mario Bergoglio nach seiner Wahl vorstellte, weiß nur zu gut: Ermahnungen, daß etwa eine „Homo-Ehe“ aus katholischer Sicht unmöglich ist, laufen ins Leere, wenn ihre Adressaten gar nicht mehr an Jesus Christus glauben oder allenfalls noch undeutliche Vorstellungen von seiner Botschaft haben.
Daß die Kirche nicht mit einer Moralanstalt verwechselt werden darf, sondern als Heilsgemeinschaft verstanden werden möchte, genau das hat auch Benedikt herausgestellt. Von Franziskus eine Aufweichung dogmatischer Positionen zu erwarten, etwa in der Abtreibungs- oder Homosexuellenfrage, das entspringt dem Wunschdenken von Mainstream-Journalisten, die sich eine Deutungshoheit über moralische Fragen anmaßen.
Lehrdokumente sind nicht mal eben veränderbar, auch nicht für den Bischof von Rom. Er hat dem Berliner „Marsch für das Leben“ eine Botschaft geschickt und die selbst in Teilen der Kirche scheel angesehenen Lebensschützer zu weiterem Engagement ermuntert; er hat vor katholischen Ärzten die „Wegwerfmentalität“gegeißelt; der einflußreiche Kurienkardinal Francesco Coccopalmerio, zuständig für die Interpretation vatikanischer Gesetzestexte, nannte Homosexualität, ein früheres Wort des Kirchenoberhauptes variierend, „objektiv etwas Negatives“; und der Papst ließ nun einen australischen Ex-Priester exkommunizieren, der für die Homo-Ehe geworben hatte.
Ein exemplarischer Fall selektiver Wahrnehmung
Die mediale Rezeption des Interviews in La Civiltà Cattolica ist ein exemplarischer Fall von selektiver Wahrnehmung. Amtskirchenkritische Gruppierungen in Deutschland überboten einander in überschwenglichen Reaktionen auf das Interview. Dabei hat Papst Franziskus gerade ihnen einen Dämpfer verpaßt. Organisatorische und strukturelle Reformen der Kirche (wie von ihnen permanent gefordert) bezeichnete er als sekundär: „Die erste Reform muß die der Einstellung sein.“ Das Volk Gottes wolle Hirten, und nicht Funktionäre oder Staatskleriker. Hat man darüber etwas gelesen in der Berichterstattung über das „revolutionäre“ Interview? Wohl kaum.
Recht hat der amerikanische Vatikan-Experte John Allen: „Viele Liberale werden denken, daß dieser Papst ihr Mann ist und daß er ihre Positionen vertritt. Sie werden enttäuscht werden.“
JF 40/13