Am Tag bevor sich die Angriffe vom 11. September 2001 zum 12. Mal jährten, versuchte Präsident Obama in einer Fernsehansprache den Amerikanern seinen Standpunkt zur anhaltenden Krise in Syrien nahezubringen. Er begann mit den Worten: „Seit fast siebzig Jahren sind die USA der Anker der globalen Sicherheit. Das bedeutet, daß wir internationale Vereinbarungen nicht nur schmieden, sondern auch durchsetzen mußten. Wer Verantwortung übernimmt, nimmt oft schwere Lasten auf sich, aber die Welt ist eine bessere geworden, weil wir sie getragen haben.“
Ein paar Sätze weiter sagte er: „Amerika ist nicht der Weltpolizist. Grauenhafte Dinge geschehen überall auf der Welt, und es würde unsere Kräfte übersteigen, sämtliches Unrecht zu beseitigen. Wenn wir aber mit wenig Aufwand tödlichen Giftgasangriffen auf Kinder ein Ende bereiten und dadurch langfristig mehr Sicherheit für unsere eigenen Kinder schaffen können, dann bin ich der Ansicht, daß wir handeln sollten. Genau deswegen ist Amerika anders. Genau deswegen sind wir ein Ausnahmeland.“
Eine Lähmung der amerikanischen Außenpolitik
Viele Beobachter sehen einen Widerspruch zwischen diesen beiden Aussagen. In Wahrheit widersprechen sie einander einerseits eindeutig, andererseits absolut nicht. Sicherlich stimmt es, daß die USA sich seit der Gründung der Nato 1949 an die Spitze anderer (nichtkommunistischer) Mächte gestellt haben, um globale Vereinbarungen durchzusetzen und in Krisengebieten militärisch zu intervenieren. Wahr ist aber auch, daß die USA stets zwischen Konflikten unterschieden haben, die ihre nationalen oder internationalen Sicherheitsinteressen gefährden, und solchen, die das nicht tun.
Diese Praxis hat den USA immer wieder den Vorwurf eingetragen, in eigennütziger, inkonsequenter oder gar heuchlerischer Art und Weise über den Einsatz ihrer Militärmacht zur Beeinflussung anderer Staaten zu entscheiden. Das Interessante an dem gegenwärtigen Konflikt ist, daß die Lähmung der amerikanischen Außenpolitik unmittelbar darauf zurückzuführen ist, daß weder die Obama-Regierung noch die amerikanische Öffentlichkeit, geschweige denn die internationale Gemeinschaft auch nur annähernd zu einem Konsens darüber gelangen kann, welcher dieser beiden miteinander konkurrierenden Grundsätze überwiegt: die Durchsetzung geltenden Völkerrechts ohne Wenn und Aber oder die nuancierte Abwägung eines Für und Wider.
Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte wälzt Verantwortung ab
Diese Spannung kommt eindeutig in sämtlichen Debatten über die angemessene Reaktion auf die „rote Linie“ zum Ausdruck, die Assad überquert hat. Auf der einen Seite stehen die Tauben und vertreten die Meinung, natürlich müsse man reagieren, begrenzte Angriffe wären jedoch wirkungslos und könnten am Verlauf des Krieges nichts ändern. Die Falken wiederum fordern, Assads Chemiewaffen müßten um jeden Preis beschlagnahmt und zerstört werden. Sie wollen ein unmittelbares Eingreifen. Deswegen sehen sie sich ebenfalls außerstande, die Obama-Regierung zu unterstützen. Ergo: beidseitige Lähmung.
Daß Obama sich gegen die Empfehlung vieler seiner Berater entschieden hat, die Zustimmung des Kongresses zu Militärangriffen einzuholen, läßt allerlei Spekulationen aufkommen. War das ein gewitzter machiavellischer Schachzug oder aber der typische Fehler eines Amateurs? Obamas Unbehagen an seiner Rolle als Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist offensichtlich. Indem Obama die Entscheidung dem Kongreß überließ, schuf er eine Situation, aus der er so oder so als Gewinner hervorgeht: Eine Befürwortung von Militärangriffen hätte bedeutet, daß sein Vorgehen von den Vertretern des amerikanischen Volkes abgesegnet wäre; ein Veto hätte ihn von der Verpflichtung entbunden, etwas zu tun, was ihm eigentlich widerstrebte.
Die rote Linie verläuft im Sand
Im Hintergrund lauert der Irak-Krieg von 2003. George W. Bush gab sich seinerzeit als Entscheider, der seinen Beratern einbleute, man dürfe eventuelle Zweifel bezüglich der amerikanischen Außenpolitik niemals äußern, da dies Freunden und Feinden die falsche Botschaft vermitteln würde. Obamas siegreiche Strategie bei den Präsidentschaftswahlen 2008 bestand darin, sich in jeder Hinsicht als Bushs Gegenteil zu präsentieren. Die jetzige Syrien-Debatte stand von Anfang an ganz im Zeichen der alten Debatten um den Irak, die die US-Außenpolitik noch auf lange Sicht beeinflussen werden.
Daß es dem Kongreß in letzter Minute doch noch erspart blieb, eine Debatte zu führen, die er nicht führen wollte, und eine Entscheidung zu fällen, die er nicht fällen wollte, hat er dem russischen Außenminister Sergei Lawrow zu verdanken. Ob die Lösung, die er auszuhandeln anbot, tatsächlich funktionieren wird, wagen viele zu bezweifeln: Nach dem Eingreifen des Deus ex machina stehen statt dem unmittelbar bevorstehenden Militärschlag gegen Syrien nun komplexe Verhandlungen darüber an, wie sich die Übergabe der syrischen Chemiewaffen überprüfen läßt. Putin und Assad stehen im medialen Rampenlicht als vernünftige Männer dar, denen an einer diplomatischen Lösung gelegen ist.
So verläuft Obamas rote Linie bis auf weiteres im Sande – der Weltpolizist übergibt den Ganoven die Schlüssel zur Polizeiwache, und alle dürfen nach Hause gehen und ausschlafen, während in Syrien weiterhin Zivilisten abgeschlachtet werden.
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Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt europäische Geschichte an der University of San Francisco
JF 39/13