Kurz nach dem Münchener Abkommen des Jahres 1938 hielt der deutsche Staats- und Parteichef in aufgeräumter Stimmung eine Rede. Der politische Erfolg auf der Münchener Konferenz war groß ausgefallen, aber die Sache noch nicht ausgestanden. Wenn auch Großbritannien und Frankreich zusammen mit Italien der Aufteilung der Tschechoslowakei zugestimmt hatten, dann konnte das aus seiner Sicht eigentlich nur einen Zweck verfolgt haben, den des Zeitgewinns. In einem Moment der Hellsicht reihte Hitler sich vielleicht deshalb bei dieser Gelegenheit schon einmal unter die großen deutschen Katastrophen der Geschichte ein:
Das deutsche Volk habe alle Kriege und alle Rückschläge überstanden. Es habe die Römerzeit überdauert, es habe das frühe und späte Mittelalter überstanden, es habe sogar den dreißigjährigen Krieg überlebt, es habe die napoleonischen Kriege und den Weltkrieg überlebt und – so fügte der Führer mit launigen Worten hinzu – „es wird auch mich überleben“.
Deutsche am Aussterben
Im letzten Punkt sollte der Mann bekanntlich Recht behalten – wenn auch nur knapp. Wie es heute den Anschein hat, könnte es zudem vielleicht nur vorläufig gewesen sein. Nach einem zwischenzeitlichen demographischen Hoch bis in die 1960er Jahre hinein scheinen die Deutschen inzwischen am Aussterben zu sein. Da sprechen die Zahlen mittlerweile seit Jahrzehnten eine klare Sprache, während sich als offizielle Sprachregelung mit großer Verzögerung lediglich die verharmlosende Floskel vom „demographischen Wandel“ eingebürgert hat.
Noch immer wird auch nicht so wirklich nach den Ursachen gefragt. Was mögen das eigentlich für Verhältnisse sein, unter denen zum realen Problem wird, was viele Jahrhunderte, Kriege, Seuchen, Franklin Roosevelt und Adolf Hitler zusammen nicht verhindern konnten: das Weiterleben des deutschen Volks? Der Versuch einer vollständigen Antwort würde den Rahmen einer Netzkolumne nun deutlich sprengen, zumal es sich auch nicht um ein rein deutsches Problem handelt. Ausgestorben wird in Europa einigermaßen flächendeckend, von Paris bis Moskau.
Wohl des Volkes Staatsziel
Fragen wir aber nach der Rolle der deutschen Politik in diesem Szenario. Zwar ist das deutsche Volk ohne den Beitrag irgendeiner Staatspolitik entstanden und wenn es überlebt hat, dann oft nicht wegen, sondern trotz „Politik“. Heutzutage ist das Wohl des Volks sinnigerweise das politische Staatsziel – jedenfalls offiziell und bis heute. Das könnte sich bald ändern. Im letzten Beitrag wurde hier eine Satire auf eine fingierte Äußerung des aktuellen Bundespräsidenten Joachim Gauck über eine geplante Streichung des Begriffs „deutsches Volk“ aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik dokumentiert.
Eine Satire war es, denn Gauck hat dies so nie gesagt. Allerdings war es eine Satire auf Basis von Beobachtungen, denn was sie zusammengefaßt hat, gehörte in den letzten Jahren vielfach zum Ton der Debatte über die wirkliche und die gewünschte Realität in der BRD. Es wird den Versuch geben, den Begriff „deutsches Volk“ aus dem Grundgesetz zu streichen. Das ist lediglich eine Frage des Zeitpunkts.
„Fortbestehen der Deutschen menschenverachtend“
Was heute im zweiten Teil dieser kleinen Beitragsreihe zum Thema werden soll, ist keine Satire. Man könnte das zwar auf den ersten Blick annehmen, aber dies wurde erstens tatsächlich so gesagt. Zweitens besteht kein Grund zur Annahme, es sei nicht auch genau so gemeint gewesen. Es handelt sich um die bereits früher einmal erwähnte Erklärung des Mecklenburger Landtags, das biologische Fortbestehen des deutschen Volks sei ein inakzeptables, „menschenverachtendes Anliegen“.
Jetzt ist natürlich der Mecklenburger Landtag nicht die allererste politische Adresse der BRD. Immerhin ist er jedoch ein Verfassungsorgan, und seine Erklärung spiegelt – ebenso wie die satirische Gauck-Erklärung – das, was in der Debatte über Volk und Bevölkerung in den letzten Jahren so alles gesagt wurde – nur eben durchaus unsatirisch. Konstatieren wir deshalb zunächst, daß die Fraktionsmitglieder von SPD, Grünen, CDU und Linken ernsthaft glauben, im Besitz einer verfassungs-, geschichts- und menschenrechtspolitisch gesicherten Position zu sein. Hier ist das Ende des deutschen Volks für dessen Politiker nicht ein Problem, sondern ein Ziel, und zwar, weil jedes Bemühen um dessen Fortbestand nicht nur menschenverachtend, sondern auch „rassistisch“ sei.
Weimar: Volk biologische Abstammungsgemeinschaft
Dazu ist zunächst zu sagen, daß mit dem im Grundgesetz und in der Weimarer Verfassung erwähnten deutschen Volk in der Tat das Volk als biologische Abstammungsgemeinschaft gemeint ist. Dies ist unter Staatsrechtlern völlig unstrittig. Das Wohl dieser Abstammungsgemeinschaft zu fördern, ist wie gesagt das offiziöse Staatsziel der Bundesrepublik. Gleichzeitig enthält das Grundgesetz ausdrücklich die Bestimmung, es dürfe im Rahmen seines Geltungsbereichs und bei Verfolgung dieses Staatsziels niemand wegen seiner „Rasse“ diskriminiert werden.
Daraus läßt sich messerscharf mindestens so viel schließen, daß das Wohl des deutschen Volks als Abstammungsgemeinschaft laut dem Grundgesetz weder ein rassistisches Ziel ist, noch rassistische Methoden erzwingt. Andernfalls wäre das Grundgesetz in sich widersprüchlich.
Aufgabe der Kulturnation
Einen solchen Widerspruch hat die deutsche Politik allerdings in den letzten Jahrzehnten in der Tat zunehmend konstruiert, sich merkwürdigerweise jedoch zugleich auch aus der Kulturnation verabschiedet. Man könnte nämlich meinen, mit der neuen Ablehnung des Volks als biologischer Abstammungsgemeinschaft sei eventuell eine stärkere Betonung von Kultur, Sprache und Tradition ins Auge gefaßt worden. Daß nicht alle in der Abstammungsgemeinschaft miteinander verwandt sind, ist eine Binsenweisheit.
Daraus ließe sich schließen, daß die biologische Herkunft nach dem neuen politischen Willen in ihrer Bedeutung grundsätzlich von einer intellektuellen, bewußten Identifikation mit Deutschland überlagert werden sollte, der auch ausländische und außereuropäische Personen angehören können, so sie denn wollen. Dies wäre möglich, ist aber nicht gemeint.
Die erklärte Gegnerschaft des politischen Betriebs gegen den exklusiven Fortbestand des deutschen Volks im Geltungsbereich des Grundgesetzes richtet sich nicht nur gegen seinen biologischen Aspekt, sondern auch gegen seinen kulturellen. Dies wirft die interessante Frage auf, ob das Volk nicht nur ohne Staat überleben kann und trotz dessen Politik, sondern auch gegen dessen erklärte Absicht. Manches spricht dagegen.