Nach der Abstimmung über den Bau des unterirdischen Bahnhofs in Stuttgart heißt es in den Meldungen, daß 48,3 Prozent der Wahlberechtigten an der Abstimmung teilgenommen hätten. Wenn ein Beobachter jedoch davon ausginge, daß man nicht nicht kommunizieren kann, dann hätten eigentlich 100 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben: Etwa 20 Prozent wollten den Bahnhof nicht, gute 28 Prozent wollten ihn doch, und der Rest, also etwas mehr als die Hälfte, war entweder unentschlossen oder desinteressiert – was dann auch eine Meinungsäußerung wäre.
Verglichen mit der Aufmerksamkeit, die das nur regional relevante Thema bundesweit in den Medien hatte, wirkt dieses unbeteiligte Verhalten wie abgekoppelt: Etwa so wie die Zuschauer eines sehenswerten Spektakels, welches auf den Einzelnen aber keinen Einfluß hat. Sowohl für als auch gegen „Stuttgart 21“ hätte man ebenso rechte wie linke, grüne wie schwarze Argumente finden können. Letztlich handelte es sich um eine Sachfrage, die ideologisch aufgeladen wurde. Ähnliches könnte sicherlich auch über andere Abstimmungen gesagt werden. Sei es nun zu Fragen des Religionsunterrichts, der Atompolitik oder über die Forderungen der Occupy-Bewegung (die mir unbekannt sind).
Interessant ist, was für Leute sich ganz vorne an der Protestfront rumtreiben. Der Cicero-Reporter Constantin Magnis hat sie am Beispiel der Frankfurter Occupy-Bewegung recht anschaulich beschrieben: Wenige ernstzunehmende Enthusiasten sowie viele Träumer, Spinner, Kriminelle und Asoziale. Es wäre unfair, die von Magnis beschriebenen Frankfurter Zustände auf jede Bürgerinitiative zu übertragen. Doch je medienwirksamer ein Protest ist, desto schräger sind die Leute, die dieser Protest anzieht. Und je schräger, desto eifriger. Je eifriger, desto medienwirksamer.
Die große Gemeinschaft der Desinteressierten und Unentschlossenen
Bei den Interessierten kommen auf ein paar ernstzunehmende Enthusiasten also jede Menge Spinner und eine recht erkleckliche Anzahl von Mitbürgern, die sich zu den Wahlurnen begeben. Und diesen drei Gruppen steht die große Nicht-Gemeinschaft der Desinteressierten und Unentschlossenen gegenüber. Wenn da von „Politikverdrossenheit“ die Rede ist, dann schwingt immer ein stiller Vorwurf mit: Man sollte sich doch mehr für Politik interessieren und gefälligst die demokratischen Rechte wahrnehmen.
Doch dieser Vorwurf ist fehl am Platze. Die Trägheit der Desinteressierten und Unentschlossenen (vielleicht auch einfach nur: der Vernünftigen) macht die Gesamtbevölkerung ein Stück weit weniger anfällig für die Aufgeregtheiten einiger aufgebrachter Grüppchen, Kommentatoren und Politiker. Nicht auszudenken, welches Chaos herrschte, wenn plötzlich jeder eine enthusiastische Meinung zu jedem Thema hätte und die auch noch auf der Straße vertreten würde.
An die anonymen 50 Prozent: Ihr seid viele. Ihr vergebt. Ihr vergeßt. Niemand erwartet was von Euch. Und das ist gut so. Danke.