Es wurde dargelegt, wie die verschiedenen Vorstellungen von Gleichheit und Ungleichheit von konkreten Menschen gebildet werden. Was man als konkreter Mensch an wesentlichen Bestimmungen besitzt, in den jeweiligen Vorstellungen leben sie fort. Oder möchte etwa jemand leugnen, daß ein attischer Vollbürger des dritten vorchristlichen Jahrhunderts andere Vorstellungen von Gleichheit und Ungleichheit besaß als ein mitteleuropäischer Mönch um das Jahr 1250? Gleiches gilt auch für die Gegenwart.
Wie sich geistesgeschichtlich leicht herleiten läßt, ist unsere heutige Vorstellung von der Gleichheit des Menschen in einer konkreten Kultur entstanden. Es war die englische Philosophie, die ein Menschenbild entwickelt hat, in dem es keine Geschlechter, Völker und Rassen mehr gibt, sondern in dem alle Menschen gleich sind. Es war die gleiche Philosophie, auf deren Grundlagen sich auch der Kapitalismus entwickelte. Und es wäre schon sehr seltsam, sollten beide von einander unabhängig heute die Welt beherrschen.
Damit aber sind wir in eine Aporie geraten. Denn wenn unsere heutige Gleichheitsvorstellung nur vor dem Hintergrund der englischen Kultur entstehen und nur ein Engländer diese Vorstellung entwickeln konnte, dann hat sie sich damit selbst ad absurdum geführt. Dann sind alle Menschen eben nicht gleich, sondern sie werden nur vom Standpunkt einer bestimmten Kultur aus als gleich betrachtet. Und dieser Standpunkt ist die kapitalistische Wirtschaftsweise Englands.
Der englische Kapitalismus interessiert sich nicht für das Besondere eines Menschen. Was ist das für ein Mensch, welcher Kultur gehört er an, wie sieht er aus, ist er Mann oder Frau, jung oder alt? Alles das ist für ihn unerheblich. Ihn interessiert am Menschen nicht wie, sondern daß er ist, daß er Arbeitskraft ist, daß er funktioniert, ein Rädchen im Getriebe, funktional und operabel ist. Das Besondere am Menschen stört hier nur und wird abgeschliffen. Der kapitalistische Mensch als organisierte Masse ist eigenschaftslos.
Was ist mit dem geistigen Menschen?
An dieser Stelle nun könnten wir unsere Untersuchung beschließen. Es wurde dargelegt, wie wir in der sinnlichen Wahrnehmung nur Ungleichheit erkennen können, wie wir nur in der vernunftmäßigen Wahrnehmung zur Gleichheit kommen, wie diese Gleichheit kulturell vermittelt wird und nun, wie die herrschende Gleichheitsvorstellung nur vor dem Hintergrund der kapitalistischen Wirtschaftsweise Englands entstehen konnte sowie was diese ad absurdum geführt hat. Doch etwas fehlt noch.
Es wurde gezeigt, wie wir weder mit unseren Sinnen, noch mit einer Vernunft zur menschlichen Gleichheit gelangen können. Aber etwas gibt es noch, daß unabhängig von diesen beiden doch Gleichheit wahrnimmt. Es ist dies unser Gefühl. Tief verborgen in unserem Innern spüren wir etwas, wir können es nicht beschreiben, uns fehlen dazu noch die Worte. Aber wir fühlen, daß uns dieses etwas als Menschen verbindet, unabhängig von unseren besonderen Bestimmungen.
„Es gibt kein schöneres Gefühl als die Sympathie, die uns anderen gleich setzt“, notiert Wilhelm von Humboldt im Paris des Jahres 1789. Doch nicht unter dem Eindruck der Französischen Revolution, sondern nach dem Besuch eines Armenspitals schreibt er diese Zeilen. „Das Gefühl des Menschseins, der Gleichheit, der Verwandtschaft mit allen, erstirbt nach und nach in dem, der nur so wenige menschliche Lagen aus eigener Erfahrung kennt“, heißt es weiter. Später nennt er dies den „Geist der Menschheit“.
Es wurde in dieser Untersuchung die Aporie aufgezeigt, zu einer Gleichheit des Menschen zu gelangen, insofern man ihn als körperliches Wesen betrachtet. Aber der Mensch ist nicht bloß dadurch bestimmt, daß er einen Körper hat. Er ist auch ein geistiges Wesen. Wie verhält es sich denn damit? Können wir vielleicht so zu einer Vorstellung menschlicher Gleichheit gelangen? Eine Gleichheit, insofern wir den Menschen ungeistig betrachten, gibt es jedenfalls nicht. Und mag man diese Lüge noch so sehr zur Wahrheit erklären.