Noch wollen manche Politiker in Europa es nicht wahrhaben, aber die Türkei entfremdet sich zusehends vom alten Kontinent und auch von seinen eigenen Wurzeln in der Moderne. Sie wird islamisch, und das war abzusehen. Diese Entwicklung hat zu tun mit der Demographie und der Religion gleichermaßen. Sie wird nach der Wahl am Sonntag offenbar werden. Als die Republik 1923 von Kemal Atatürk gegründet wurde, zählte die Türkei 14 Millionen Einwohner. Heute sind es gut 75 Millionen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist keine 30 Jahre alt.
Das Bevölkerungswachstum findet vor allem auf dem Land statt, in Anatolien, wo die Laizität, eine Säule des Kemalismus und der modernen Türkei, nie Wurzeln schlug. Ab 1970 begann eine Landflucht, es entstanden die großen Städte, Istanbul wucherte zu einer 20-Millionen-Megalopolis heran, das Dorf Ankara wuchs auf fünf Millionen. Auf dem Land stimmten die Bauern und ihre Söhne brav für die etablierten Parteien des Kemalismus oder für die liberale und religiöse Rechte. In der Stadt verloren sie diese Gewohnheit, entwurzelt begannen sie für extreme Parteien zu stimmen, entweder für neoislamistische oder auch ultranationalistische.
Entfremdung zwischen Ankara und dem Westen
Bei den Wahlen 1987 kamen diese Gruppen gerade mal auf 10 Prozent der Stimmen, vier Jahre später waren es schon 17 Prozent, 1999 schon 35 und 2002 bereits 54 Prozent der Stimmen. 2007 schließlich votierten zwei Drittel der Türken für die extremen Parteien, die Islamisten holten allein 48,9 Prozent. 1987 hatten sie mit sieben Prozent angefangen, seit 1993 werden alle größeren Städte von einem islamistischen Bürgermeister regiert. Mit Erdoğan hat die Türkei seit fast einem Jahrzehnt einen islamistischen Regierungschef.
Dennoch glauben viele Europäer noch an die kemalistische Macht in der Türkei. Aber die Armee ist weitgehend gesäubert und vor allem in den unteren Offiziersrängen islamistisch angepaßt. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis eine weitere Säule der modernen Türkei, das Bündnis mit Israel, zum Einsturz gebracht wurde. Die Türkei ist im Begriff, einen Allianzenwechsel zu vollziehen. Man hatte nur kurz die Brauen hochgezogen, als Ankara und Brasilia im Sicherheitsrat vor einem Jahr gegen die Sanktionen gegen den Iran stimmten.
Wichtig war den Europäern und Amerikanern, daß China und Rußland kein Veto einlegten, sondern sogar mitzogen. Das türkische Nein hielt man für die Reaktion eines Verschnupften, weil der türkisch-brasilianische Vermittlungsvorschlag im Atomstreit mit dem Iran keine weitere Beachtung gefunden hatte. Das mag für Brasilien gelten. Aber das türkische Nein ist ein Meilenstein. Es markiert eine weitere Etappe auf dem Weg der Entfremdung zwischen Ankara und dem Westen.
Neue Bündnisse mit Radikalislamisten
Kennern war es schon früher aufgefallen. Der Türkei-Experte Stephen Cook schrieb in der führenden außenpolitischen Fachzeitschrift Foreign Affairs von der „Frenemy“ zwischen Ankara und Washington. Mit diesem Wortspiel benennt er die Gleichzeitigkeit von Freund (friend) und Feind (enemy), die das Verhältnis zur Türkei derzeit präge. Nach sechs Jahrzehnten strategischer Zusammenarbeit würden die Türkei und die USA jetzt zu strategischen Gegnern, vor allem im Nahen Osten.
Es fehlt natürlich nicht an Stimmen in Amerika, die die Schuld für diese Entfremdung den Europäern zuschieben. Diese hätten es nicht verstanden, die Türken stärker an den Westen zu binden, indem sie Ankara die Türen zur Vollmitgliedschaft nicht weiter öffneten. So reden Leute, die von Geopolitik nichts und von Geschäften viel verstehen. Aber Markt und Politik gehen nicht immer im Gleichschritt.
Architekt der Gleichzeitigkeit ist der heutige Außenminister Ahmet Davutoğlu. Er betreibt eine Annäherung an die antiwestliche Achse zwischen Rußland, Venezuela, Brasilien, Syrien und Iran. Gleichzeitig forciert er mit Premier Erdoğan die Entfremdung von Israel, Amerika und Europa. Privilegierte Bindungen werden mit den Palästinensern aufgenommen, besonders mit der radikalislamistischen Hamas.
Türkei strebt nach der Atombombe
„Kavgam“, die türkische Übersetzung von Hitlers „Mein Kampf“, wird seit 2005 in hohen Auflagen nachgedruckt; anti-amerikanische und antisemitische Filme werden zu Kassenschlagern; die Verfassung wird islamischer, die Armee gesäubert, die Internet-Zensur verschärft. Die fünf Säulen kemalistischer Außenpolitik (Vorfahrt für das Nationalinteresse, keine imperialen Gelüste, Abwendung vom Orient, Hinwendung zum Westen, neutrales Verhalten bei regionalen oder globalen Konflikten) werden brüchig, es bleibt das nationale Interesse, das allerdings auch immer deutlicher vom Islamismus geprägt wird.
Es ist der innere Wandel der Türkei, der sich auf die Außenpolitik auswirkt und zum Wechsel der Allianzen drängt. Sollten sich die national-islamistischen Kräfte unter Erdoğan und Davutoğlu endgültig durchsetzen, hat der Westen, insbesondere Europa, es mit einer Achse autokratischer Systeme zu tun, die fast alle die Atombombe wollen. Und das ist ein Problem.
Aufnahme in die EU wäre europäischer Selbstmord
Die Entwicklung in der Türkei selbst ist nachhaltig. Die demographisch bedingte Landflucht und die Radikalisierung der entwurzelten Bauern, ihre Hinwendung zum Islam hat ihre Fortsetzung in Europa, insbesondere in Deutschland. Natürlich darf man nicht alle Türken über einen Kamm scheren. Aber die Radikalisierung in den türkischen Vierteln ist unübersehbar, mit ihr auch die Polarisierung zwischen Integrationswilligen und Integrationsverweigerern.
In der Türkei selbst macht sich die Islamisierung in einem Fanatismus Luft, unter dem auch die Christen zu leiden haben. Morde an Geistlichen sind keine Ausnahmen mehr. Von der – ohnehin schon begrenzten – Religionsfreiheit, die noch vor den Zeiten Erdoğans in der Türkei herrschte, kann heute keine Rede mehr sein. Es grenzt an Selbstmord, die Türkei des Sultans Erdoğan als Vollmitglied in die EU aufzunehmen.
JF 24/11