Vielen ist es ein Rätsel, welchen Aufstieg in der deutschen Politik Angela Merkel vollziehen konnte. Der Lebensweg, den die von ihren männlichen Kollegen schwer unterschätzte Politikerin zurücklegte, ist atemberaubend. Sie wurde im Jahr 2000 im Alter von 45 Jahren erste weibliche Vorsitzende der CDU, 2005 übernahm sie als erste Frau das Amt des deutschen Bundeskanzlers. Den Spott ihres Vorgängers Gerhard Schröder („Sie kann es nicht!“) strafte sie stoisch Lügen, indem sie ihn demnächst auch hinsichtlich der Amtszeit hinter sich gelassen haben wird.
Gerade durch ihren Mangel an rhetorischem Talent, ihre gedrungene, kleine Statur, die Sparsamkeit ihrer Gesten gelingt es ihr erfolgreich davon abzulenken, wie sehr sie die harten Instrumente der Macht beherrscht, um ihre Position in der Partei zu festigen. Dies ist auch deshalb besonders erstaunlich, da sie aus einem der schwächsten deutschen CDU-Landesverbände stammt und ohne klassische Hausmacht auskommen mußte.
Angela Merkel überwand ihren mächtigen Ziehvater und Patriarchen Helmut Kohl, der sie als „sein Mädchen“ in den CDU-Vorstand und ins Bundeskabinett geholt hatte. Sie verdrängte den durch die Folgen der Spendenaffäre angeschlagenen Kronprinzen Wolfgang Schäuble. Sie stellte nacheinander mächtige Konkurrenten kalt, allen voran Friedrich Merz. Die Männer entpuppten sich neben Merkel als zahnlose Tiger.
Gespenstische chamäleonhafte Anpassungsfähigkeit
Merkel scharte ein ihr ergebenes „Girlscamp“, ein Netzwerk ehrgeiziger Politikerinnen um sich, zu denen heute Annette Schavan und Ursula von der Leyen gehören. Abgesehen von einem kurzfristig und bald korrigierten Ausflug in eine freiheitlichere Finanz- und Steuerpolitik anläßlich des Leipziger Parteitages 2003 steht Merkel für eine galoppierende Sozialdemokratisierung der CDU, die als „Modernisierung“ verschleiert wird.
Sie entpuppt sich dabei als diejenige, die am geschmeidigsten den Kurs der Partei an einen von links bestimmten Zeitgeist anzupassen weiß. Diktiert von der Maxime, an der Macht zu bleiben. Tatsächlich vollbringt Merkel das Kunststück, die CDU bei Wahlergebnissen auf die längste Talfahrt ihrer Geschichte zu führen, gleichzeitig jedoch immer fester am Sessel zu kleben. So hat sie für den Fall des Untergangs der FDP längst die Rückkehr in eine von ihr als bequemer empfundene Große Koalition im Kalkül.
Wie ist dieses „Phänomen“ Angela Merkel zu erklären? Woher kommt diese gespenstische chamäleonhafte Anpassungsfähigkeit, der gänzliche Mangel an politischen Grundsätzen? Unser Reporter Hinrich Rohbohm hat sich für ein mehrteiliges Großporträt monatelang auf Spurensuche begeben. In ihrer Heimat Uckermark, unter politischen Weggefährten, in ihrer Familie. Wir erfahren, weshalb der Kanzlerin der politische Linkskurs so leicht fällt, weshalb er zu ihrem Programm wurde.
JF 19/11