„Gewiß ist unsere Gesellschaft nicht vollkommen“, sagen wir. „Aber dennoch verstehen wir euer hartes Urteil nicht?“ „Es stimmt schon was man sagt“, erwiderte der Athener halb zu sich selbst. „Nur das edle Geblüt der Hellenen vermag ein so hochstehendes Gemeinwesen hervorzubringen. Diese Barbarenvölker mit ihrer minderwertigen Rasse wissen nicht einmal die einfachsten Dinge.“
Zu uns gerichtet fährt er fort: „Wisset, daß jeder Bürger für die Erhaltung des Gemeinwesens einstehen muß. Ohne dies mögt ihr noch wie Könige leben, doch eure Kinder schon werden die Sklaven fremder Herren sein“, sagt er kopfschüttelnd, als würde er zu unverständigen Kindern sprechen. „Was ihr auch immer für Werte habt, sie werden euch nicht überleben. Ins Grab werden sie euch folgen und es wird sein, als hätte es sie und euch nie gegeben.“
Eine spitze Erwiderung liegt uns auf der Zunge, doch ungerührt fährt unser gegenüber fort: „Bei uns gibt es Verfassungen, die den Bürger dazu verpflichten, bis zum dreißigsten Lebensjahr eine Familie zu gründen. Mißachtet er dies und kann kein Kind vorzeigen, wird er auf ewig mit Schimpf und Schande aus der Bürgerschaft ausgeschlossen.“ Empört wollen wir etwas von Anmaßung entgegnen, doch es will sich kein Wort aus unserem Mund ringen.
Was würde der Athener tun?
Stumm stehen wir da, während der Athener nun voller Stolz von den Vorzügen seines Gemeinwesens berichtet, von der wechselweisen Herrschaft der Freien und Gleichen, von der Wehrtüchtigkeit der Jugend und dergleichen mehr. Als er einen Moment innehält bitten wir ihn doch etwas eingeschüchtert um einen Rat. Beschwingt von seiner Rede blickt er uns milde lächelnd an. „Was für Hilfe wünschen die Barbaren von einem Helenen?“
Erst stockend, dann immer schneller sprudeln die Worte aus uns heraus. Ja, er hat Recht, unsere Gesellschaft hat in der Tat ein existentielles Problem. Einwanderer aus einer fremden Kultur sind in unsere Gesellschaft eingedrungen, sie werden immer mehr, und statt sich unseren Gesetzen unterzuordnen, zwängen sie uns ihre eigene Kultur auf. Unser Freiraum, unsere großartige Freiheit, wird von Tag zu Tag immer enger.
Wir erzählen ihm alles und geduldig hört er zu. Schließlich schüttelt er verwundert den Kopf. „Ihr seid seltsame Menschen. Daß eure Frauen keine Kinder mehr bekommen ist euch gleichgültig, aber das hier erfüllt euer Herz mit Furcht.“ Erstaunt blicken wir ihn an, und er fährt fort: „Ich kann wirklich kein Problem erkennen. Jedenfalls keines, das nicht mit ein paar gesetzestreuen Hopliten aus der Welt geschafft werden könnte.“
Haben auch wir noch eine Kultur zu vererben?
„Hopliten, sind das so etwas wie Sozialarbeiter? Aber schon mit dem ersten Gastarbeiterabkommen…“ „Und seltsame Worte habt ihr auch“, unterbrach uns der Athener. „Was sind ‚Gastarbeiter‘? Ich kenne so etwas nicht und habe niemals davon gehört. In meiner Sprache nennt man das, was ihr mir beschrieben habt, ‚Sklaven‘. Was laßt ihr euch von diesen bedrängen?“
Finsternis umfängt unsere Sinne und wir stürzen wie tot zu Boden. Nach einer Weile erwachen wir. Der Athener ist verschwunden. War das alles nur ein Traum? Ein Alptraum, ein böser Streich, den uns die überreizte Phantasie gespielt hat? Schaudernd denken wir an das Gespräch zurück. Und das soll der angebliche Erfinder der Demokratie gewesen sein? Eine scheußliche Vorstellung.
Aber doch, er hat ein Erbe hinterlassen. Was aber werden wir unseren Kindern übergeben? Besitzen wir überhaupt noch etwas, das wir weiterreichen können? Oder wurde bereits alles „für einen guten Zweck“ geplündert?