Wenn er erzählt, ist es, als wäre er gerade hautnah dabei. Horst Kreeter spricht schnell. Stark mit seinen Händen gestikulierend, beschreibt er die Ereignisse vom 17. Juni 1953, dem Tag des Volksaufstandes in der DDR.
Er schildert sie so, wie er sie erlebt hat: als 22 Jahre alter Sohn eines Tankstellenbesitzers aus Tasdorf, einem Ortsteil von Rüdersdorf bei Berlin. Und obwohl seitdem schon 55 Jahre vergangen sind, redet er davon, als habe er erst gestern einen Stein gegen die Stahlwand eines Sowjet-Panzers geschleudert.
Nicht ohne Grund. Denn heute fühlt sich der 77jährige stärker denn je daran erinnert. Mit Sorge sieht er, wie die Kommunisten in Deutschland wieder an Einfluß gewinnen. „Einiges ist wieder wie damals“, sagt er. Die Stasi, die wieder in vielen Schaltstellen der Macht walte. Die SED-Nachfolger, die sich jetzt Linkspartei nennen und in den Parlamenten sitzen. Und die steigenden Benzinpreise. Auch 1953 waren Öl und Benzin teuer, die elterliche Tankstelle eine wahre Goldgrube gewesen.
„Da muß ich dabei sein, ich fahre nach Berlin“
Fünf Liter kosteten 25 Mark. Genau diese Summe durfte jeder DDR-Bürger maximal zu Hause verwahren. „Völlig unrealistisch“, sagt Kreeter. Selbständige wie seine Eltern hatten es in der DDR besonders schwer. „Man wollte sie nicht, weil man sie nicht so gut kontrollieren konnte“, erzählt der gelernte Rundfunkmechaniker. „Die Kommunisten wollten den Fabrikarbeiter.“ Ihn hätten sie leicht rund um die Uhr überwachen können. Unterdessen hätten Selbständige stets um ihr Eigentum fürchten müssen.
Die Unzufriedenheit über die Verhältnisse wuchs. Die Leistungserwartungen der kommunistischen Führung an ihre Bürger ebenfalls. Preise stiegen, Entbehrungen nahmen zu. Im Juni 1953 kam der Volkszorn zum Ausbruch. „Viele wollten sich einfach Luft verschaffen“, erklärt Kreeter die damalige Stimmung.
Überall in der DDR kommt es zu öffentlichen Protesten, Streiks und Demonstrationen. Der Rundfunkmechaniker Kreeter ist damals wie elektrisiert. Er hört RIAS, den Radiosender aus dem amerikanischen Sektor Berlins. Als er dabei am Abend des 16. Juni erfährt, daß die Streiks weitergehen, gibt es für ihn kein Halten mehr. „Da muß ich dabei sein, ich fahre nach Berlin“, sagt er seinen Eltern.
<---newpage---> Pfiffe als Antwort auf Stahl und Munition
Einen Tag später ist er auf der Stalinallee. Er will wie viele andere zum Marx-Engels-Platz, wo die Menschen scharenweise zusammenströmen. Volkspolizei versucht die Massen daran zu hindern – vergeblich. Immer mehr Protestler drängen auf den Platz.
„Wir waren im Begriff, eine Streikleitung zu gründen“, erinnert sich Kreeter an die euphorische Stimmung unter den Demonstranten. Es sollte nicht mehr dazu kommen. „Um 11.30 Uhr hörten wir die Ketten von Panzern rasseln“, erzählt er. Gleich im ersten T34 saß der sowjetische Stadtkommandant von Ost-Berlin. Die Demonstranten empfangen ihn mit einem gellenden Pfeifkonzert.
Pfiffe, die als einzige Antwort auf Stahl und Munition herhalten müssen. Ein ungleicher Kampf. Nur im Schritttempo rollen die übermächtigen Kolosse heran. Aber sie rollen unaufhaltsam. Nur langsam weichen die Massen zurück. Die Hinteren haben noch nicht realisiert, was los ist, werden einfach von den Vorderleuten zurückgedrängt.
David gegen Goliath
Den sowjetischen Militärs geht das zu langsam. Die Eingangsluken der Panzer werden geschlossen. Maschinengewehrsalven knattern durch die Luft. Panik. Viele fangen an zu rennen, versuchen sich irgendwie in Sicherheit zu bringen. „Wenn geschossen wird, rennt man automatisch“, erklärt Kreeter die Situation. Er selbst kann sich hinter eine Tribüne retten. Jene Tribüne, die normalerweise den SED-Funktionären für Parteikundgebungen dient.
Ein anderer Demonstrant schafft es nicht mehr, er wird am Ende des Platzes zur Liebknechtstraße überfahren. Kurze Zeit später liegt ein roh gezimmertes Holzkreuz auf der Straße. „Von den Sowjets ermordet“, trägt es als Aufschrift. „Keine Ahnung, wo das auf einmal so schnell herkam“, wunderte er sich damals.
Gegen 12 Uhr entfernt sich Kreeter von der Tribüne, sucht nach besserem Schutz in Trümmern aus dem Zweiten Weltkrieg, die noch überall herumliegen. Jede Menge Steine sind da. Kreeter nimmt sich einen von der Größe einer Faust, schmeißt ihn wütend und mit dem Mut der Verzweiflung gegen den ersten anrückenden Panzer. Andere folgen seinem Beispiel. „Ich warf den ersten Stein“, erklärt er. Es beginnt ein Kampf, der dem des David gegen Goliath gleicht.
<---newpage---> Sowjetische Infanterie rückt an
Doch die biblische Geschichte wiederholt sich nicht – noch nicht. Erst 36 Jahre später sollten die Massen erneut den Mut aufbringen, um an jedem Montag dem DDR-Regime in Sprechchören zu verkünden, daß sie das Volk seien und die Stasi raus müsse.
Am 17. Juni behielt Goliath noch die Oberhand. „Wir hatten die eigentlich schon weg vom Fenster, wenn die Russen nicht gekommen wären“, ist Kreeter überzeugt.
Sowjetische Infanterie rückt zusätzlich an, räumt endgültig den Marx-Engels-Platz von den Demonstranten. „Da war mir klar, daß nichts mehr zu holen ist“, schildert Kreeter.
Doch die Soldaten sind unsicher, wissen auch nicht so recht, wie sie sich verhalten sollen. Eine Order ist aber offensichtlich klar: Die Demonstranten dürfen nicht zum Brandenburger Tor durchgelassen werden. Selbst ein SED-Funktionär bekommt das zu spüren. Kreeter beobachtet ihn, wie er einen Ausweis zückt und den Soldaten vorzeigt. Ohne Erfolg. Ein Soldat drängt den Mann zurück, rammt ihm den mit Eisen verkleideten Gewehrkolben ins Kreuz.
Ausgangssperre in Ost-Berlin
Weil an ein Durchkommen zum Brandenburger Tor nicht zu denken ist, gehen die Protestler zum Alexanderplatz. Es ist inzwischen 13 Uhr. Hier ist der Aufstand noch im vollen Gange. Demonstranten liefern sich eine Steinschlacht mit Volkspolizisten. Autos werden umgekippt und angezündet. „Gegen die Volkspolizei konnten wir uns immer so lange halten, bis die Russen erschienen“, beschreibt Kreeter den Kampfverlauf.
Gegen Nachmittag haben die Sowjets alles abgeriegelt. Kreeter versucht gemeinsam mit einem Bekannten nach West-Berlin zu gelangen. Sie haben Glück. Die Jannowitzbrücke ist noch nicht abgeriegelt worden. In Kreuzberg angekommen, beratschlagt sich Kreeter mit seinem Bekannten.
Es ist 18 Uhr. Wegen des verhängten Ausnahmezustandes war für Ost-Berlin eine Ausgangssperre für 21 Uhr erlassen worden. Bis dahin mußten beide wieder zuhause sein. Sie gehen zur Oberbaumbrücke, wo sich die Grenze zum sowjetisch besetzten Sektor befindet. Massen von Demonstranten stehen auf der Brücke, die wütend protestieren. An der östlichen Seite hinter der Brücke haben Volkspolizisten Posten bezogen.
<---newpage---> Schüsse fallen
Um die tobende Menge unter Kontrolle zu halten, geben sie Warnschüsse ab. Kreeter sieht, wie die Geschosse in einen Brückenpfeiler einschlagen. Staub wirbelt an den Einschußlöchern auf. Kreeter und sein Bekannter bahnen sich einen Weg durch die Menge. Unbeachtet können sie in Richtung Köpenick verschwinden.
Die Nacht rückt näher. Beiden läuft die Zeit davon. In Friedrichshagen an der Straßenbahnhaltestelle nach Schön-eiche folgt der nächste Schreck. Auch jenseits der Stadtgrenze herrscht Ausnahmezustand. Dann schlägt die Uhr neun: Ausgangssperre. Die zwei Flüchtenden sind noch immer auf der Straße. Kurz vor Schöneiche gelangen sie schließlich an die Stadtgrenze zur Zone. Sie haben Glück. Grenzposten sind nicht zu sehen.
Ab Schöneiche trennen sie sich. Kreeter hat noch zehn Kilometer zu laufen. Er kommt an einer Kneipe vorbei, sieht, wie die Menschen noch immer den Aufstand feiern. „Die hatten noch gar nicht realisiert, daß es aus war“, beschreibt er die damalige Situation. Schnell klärt er die Leute auf, sagt ihnen, daß auch hier der Ausnahmezustand herrscht. Rasch wird das Lokal geschlossen, die Gäste machen sich erschrocken auf den Heimweg.
„Halt, Volkspolizei!“ Ein Scheinwerfer blendet auf
Horst Kreeter hat es jetzt fast geschafft. Es sind noch 150 Meter bis zu seinem Elternhaus. Plötzlich ertönt ein Ruf: „Halt, Volkspolizei!“ Ein Scheinwerfer blendet auf. Zwei Uniformierte kommen auf ihn zu. Doch Kreeter atmet auf. Einen davon kennt er. „Ach, du bist das“, sagt der nur und warnt ihn sogar noch vor sowjetischen Soldaten, die sich in unmittelbarer Nähe der elterlichen Tankstelle postiert haben. Es ist jetzt ein Uhr in der Nacht. Zwischen Häusern und Bäumen umherschleichend nähert sich Kreeter dem elterlichen Anwesen. Und es gelingt ihm, unbemerkt ins Haus zu gelangen.
Kreeter hatte es geschafft. Drei Jahre später sollten ihn die Erlebnisse vom 17. Juni aber doch noch einholen. Am 10. Januar 1956 wurde er von der Stasi verhaftet. Der Grund: Monate nach dem 17. Juni hatte er Kontakt zu den Amerikanern aufgenommen. „Mir war klar: Wenn uns einer helfen kann, dann nur der Ami“, erläutert Kreeter.
Bei Vernehmungen in der Prenzlauer Allee wurden ihm auch seine Steinwürfe von 17. Juni vorgehalten. „Ich war erstaunt, wie gut die über mein Mitwirken informiert gewesen waren“, schildert Kreeter. Es folgten fünf Monate Haft in Kellerzellen ohne Fenster, ehe er vom 1. Strafsenat in Frankfurt/Oder unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Nach fast neun Jahren Gefängnis in einer Haftanstalt in Torgau wurde Kreeter im August 1964 von der Bundesregierung freigekauft.
Horst Kreeter: Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 konnte sich Horst Kreeter gerade noch einer Festnahme entziehen. Drei Jahre später ging er der Stasi doch noch ins Netz. Knapp neun Jahre danach wurde er von der Bundesregierung für 40.000 Mark aus der Haft freigekauft. Unmittelbar vor seiner Entlassung wurde der heute 77jährige für eine Nacht in die berüchtigte Haftanstalt Berlin-Hohenschönhausen verlegt. Kreeter lebt heute in einem Reihenhaus in der Nähe von Offenbach.