Es ging ein Gespenst um in Zürich, Ende der 70er bis Anfang der 80er Jahre. Weltweit berichteten TV-Sender von einem geheimnisvollen Graffiti-Sprayer. Der verunstaltete nachts die Betonwände der Stadt, überzog sie mit geheimnisvollen Hieroglyphen. Die Bürger schlugen Alarm: Bis dahin waren ihre Gebäude zwar trostlos, aber immerhin sauber. Eine große Suchaktion begann. Nach dem Phantom, das die Ruhe der Tristesse gestört hat.
Besonders provokant und irritierend war, daß dennoch zahlreiche Stimmen für das Phantom Partei ergriffen. So erhob Josef Beuys den „Sprayer von Zürich“ zu einem der größten Gegenwartskünstler. Auch mancher Jugendliche erkannte im Spray-Phantom keinen „Schmierfink“, sondern eine willkommene Alternative zur offiziellen Museumskunst.
Tatsächlich konnten selbst Gegner nicht leugnen, daß hier ein Stilvirtuose am Werk war – mit sofortigem Wiedererkennungswert. Niemand, der sie einmal sah, kann sie vergessen: diese Figuren am ontologischen Minimum, mit Körpern, nur aus einem Strich bestehend, mit Extremitäten, so lang und dürr wie bei Spinnen und Schnaken. Dabei immer die großen Augen: Götter, Außerirdische, Totenschädel auf dem Friedhof des Betons. Darunter eine Undine, inmitten von Asphalt. Oder die Fischfrau, der geflügelte Teufel, gestreßt und eilend, auf die Wand eines Treppenhauses gesprayt.
Flucht nach Deutschland
Hier feierte jemand im Schutz der Nacht seine persönliche Romantik, die Wiederkehr der Mythen in einer Zeit, die – entgegen der 80er-Nostalgie-Welle – unsagbar häßlich, trostlos und kaltkriegerisch angstbeladen war. Einer Zeit, die Margarethe von Trotta als die „bleierne“ tituliert hat. Die Nacht solcher „Vernunft“ gebar ihr Graffiti. Dann geschah das Unvermeidliche: Bei der Entstehung eines seiner ca. 600 Spraybilder verlor das Phantom die Brille, mußte zum Tatort zurück – und wurde gefaßt. 1981 stand der Sprayer von Zürich vor Gericht und hatte einen Namen: Harald Naegeli. Der Haftstrafe entzog er sich durch Flucht nach Deutschland. Hier wurde er vor internationalem Haftbefehl geschützt – und zugleich etabliert.
Er traf auf Größen der Kunst und Politik, sprayte in Köln offiziell einen großen Totentanz. Das Phantom war demaskiert und integriert. Bis Naegeli an der dänischen Grenze verhaftet, ausgeliefert und inhaftiert wurde. Seitdem hat Naegeli noch ein reichhaltiges Werk kreiert: Neben Graffiti schuf er Skulpturen und komplexe Partikelzeichnungen. Das mag zahlreiche Interpreten und Kunstmagazine in Atem halten, aber der Mythos Naegeli ist unweigerlich an die „Ästhetik des Risikos“ (Georges Mathieu) gebunden. Einen Minimalismus, dem man die Angst des Schöpfers vor frühzeitiger Entdeckung noch anmerkt; eine Ästhetik, deren Unruhe diejenige der Zeit artikulierte. Inzwischen ließ Zürich sogar die erhaltene „Undine“ restaurieren, vor Ausbleichung konservieren.
Wenn Naegeli am 4. Dezember seinen 70. Geburtstag feiert, tut er dies als – auch in der Schweiz – gefeierter Kulturschaffender. Die Aufdeckung der Nachtseiten dieser Welt ist inzwischen in andere Hände übergeben. Beispielsweise in die von Miru Kim, einer Fotografin, die in New York, Berlin und Paris künftige Zivilisationsruinen ablichtet.