Armin Laschet fühlt sich schuldig: nicht persönlich, aber in seiner Eigenschaft als Mitglied der bundesdeutschen Gesellschaft. Diese hat seiner Ansicht nach in den vergangenen vier Jahrzehnten Schuld auf sich geladen, weil sie Einwanderern keine wirkliche Chance auf einen Aufstieg in der Gesellschaft eingeräumt habe. Laschet, der erste und berühmteste Integrationsminister des Landes, hat sich vorgenommen, dies zu ändern.
„Wir haben uns durch jahrzehntelange Realitätsverweigerung leider an den Aufstiegschancen ganzer Generationen von Zuwanderern versündigt und gerade bei der Bildung der Kinder notwendige Hilfeleistungen unterlassen“, schreibt der nordrhein-westfälische Integrationsminister in seinem gerade erschienenen Buch „Die Aufsteigerrepublik“. Doch der CDU-Politiker weiß, wie Deutschland diese Scharte zum Wohle aller wieder auswetzen kann: „Wir brauchen eine dritte deutsche Einheit“, lautet sein Lösungsvorschlag für all die Integrationsprobleme in Deutschland, wie sie äußerst zugespitzt gerade von dem ehemaligen Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) beschrieben worden sind (siehe Seite 7).
Nach der Integration der Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vereinigung von West- und Mitteldeutschen nach 1989, so die Forderung Laschets, müsse nun die „Vereinigung“ von Deutschen und Einwanderern erfolgen. Ziel müsse es sein, den „Neudeutschen“ über den gleichberechtigten Zugang zur Bildung Aufstiegschancen zu ermöglichen. Wenn es ein Ausländer bislang geschafft habe, in der Bundesrepublik aufzusteigen, beruht das seiner Meinung nach vor allem auf Zufällen.
Laschet gibt sich nicht der Illusion hin, daß die Deutschen diese Politik mittragen werden, weil sie plötzlich den Multikulturalismus für sich entdeckt haben. Die Deutschen würden sich vielmehr angesichts der dramatischen demographischen Entwicklung in der Bundesrepublik von der „Notwendigkeit“ einer Kehrtwende in der Integrationspolitik überzeugen lassen.
„Vom Ansatz her“ sei das alles richtig, lobte denn auch Daniel Cohn-Bendit Laschets Thesen in der vergangenen Woche bei der Vorstellung des Buches in Berlin. Dabei geht es dem Grünen-Politiker weniger um die konkreten Vorschläge seines Duzfreundes „Armin“ (man kennt sich aus gemeinsamen Zeiten im Europaparlament), sonder eher um das gedruckte Eingeständnis des CDU-Politikers, daß es die Volksparteien 40 Jahre lang verschlafen haben, die Einwanderer zu integrieren.
Doch dies soll sich nun ja ändern. Und die Hürden, die Laschet den potentiellen Neubürgern für ihre Integration stellt, sind denkbar niedrig. Davon, daß sich die Einwanderer der deutschen Kultur anpassen müssen, will der Integrationsminister nichts wissen. „Eine deutsche Leitkultur gibt es nicht“, stellt Laschet knapp fest. Schließlich gebe es keine urdeutschen Werte, auf die sich die Gesellschaft berufen könne, sondern höchstens europäische beziehungsweise jüdisch-christliche Werte. Und selbst hier macht der Christdemokrat Einschränkungen. So könnten seiner Ansicht nach drei Viertel der Einwohner dem restlichen Viertel nicht die Werte vorschreiben, sagt er mit Blick auf die Mehrheitsverhältnisse der modernen deutschen Einwanderungsgesellschaft.
In einem Punkt jedoch, das machte Laschet an diesem Abend deutlich, ist er zu keinen Kompromissen bereit: bei der besonderen geschichtlichen Verantwortung aller Bundesbürger – seien es „Altdeutsche“ oder „Neudeutsche“. Deutschland sei eben nicht nur Beckenbauer und Goethe, sondern auch Auschwitz, sagte der CDU-Politiker, der sich irrte, wenn er sich auch an diesem Punkt ungeteilte Zustimmung von Cohn-Bendit erwartet hatte. „Das ist ja gut gemeint, funktioniert aber nicht“, beschied der sowohl in Frankreich als auch in Deutschland beheimatete Grünen-Politiker. Die Verantwortung für die deutsche Geschichte stehe weder im Grundgesetz noch in irgendeinem Gesetzbuch. Vielmehr bringe die Einwanderungsgesellschaft mit dem stetigen Zuzug von Menschen aus anderen Kulturen auch „neue Inhalte von Verletzungen“: so etwa die Armenier und die Kurden mit ihrer Verfolgungsgeschichte durch die Türken oder auch das Schicksal der Palästinenser. All dies, daran ließ Cohn-Bendit keinen Zweifel, werde Teil der gemeinsamen Erinnerungskultur von Einwanderern und Deutschen. Denn die Einwanderung verändere auch die Erinnerungsnotwendigkeit. „Armin, da hast du dich vergaloppiert“, brachte Cohn-Bendit seine Vorbehalte auf den Punkt.
Armin Laschet hörte sich dies alles geduldig und lächelnd an. Daß ihn die Argumente Cohn-Bendits wirklich erreicht und zum Nachdenken angeregt haben, ließ sich am Ende allerdings nicht mit Bestimmtheit sagen.
Armin Laschet: Die Aufsteigerrepublik. Zuwanderung als Chance. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2009, gebunden, 291 Seiten, 19,95 Euro