Der französische Sozialphilosoph und Wirtschaftswissenschaftler Cornelius Castoriadis pflegte zu sagen, daß wir in einem „Zeitalter der seichten Gewässer“ leben. Die Wendung war glücklich gewählt. Europa scheint längst bar jeglichen substantiellen Gehalts. Es strebt kein gemeinsames Ziel an, will keine historische Rolle mehr spielen. Nicht einmal über die Definition dessen, was Europa überhaupt ist, besteht Einigkeit. Europa verwandelt sich allmählich in eine riesige Karawanserei – geschichtslos, gedächtnislos, grenzenlos. Es bildet eine Art träge Masse, die doch überall in Bewegung ist. Hier fristet man sein Dasein, ohne zu leben. Hier ist man ständig „unterwegs“ und kommt niemals an. Hier sind tausend Formen sichtbar, denen aber die Konturen fehlen. Mächte gibt es hier im Überfluß, dennoch ist Europa machtlos. Jeder sieht sich hier anders, und doch sehen alle gleich aus.
Bild folgt auf Bild, Geräusch auf Geräusch, eins so flüchtig, so oberflächlich wie das andere. Damit soll Aufmerksamkeit erregt, abgelenkt, auf andere Gedanken gebracht oder besser gesagt: soll Denken verhindert werden. Die Belanglosigkeit wird zum alles beherrschenden Gesetz. Unweigerlich fühlt man sich an jene Welt erinnert, wie sie die Wachowski-Brüder schon vor zehn Jahren in ihrem Film „Matrix“ imaginiert haben. Jeder hier hält das Unechte für wahr und wirklich, jeder wird manipuliert, noch während er sich für frei hält. Niemals zuvor haben die Menschen sich so sehr eingebildet, tun zu können, was sie wollen; niemals waren sie so sehr der Reglementierung unterworfen. Tatsächlich wissen sie gar nicht mehr, was sie wollen, denn das System selber formt ihre Begierden. Die allgegenwärtige Werbung beschallt sie unablässig mit ein und derselben Botschaft, daß nämlich das Glück im Erwerb von Gegenständen liege, in der Anhäufung von Dingen. Die Konsumideologie mit ihrer ständigen Suche nach neuen Marktlücken hinterläßt überall eine spektakuläre Leere. So sieht die Verdinglichung der sozialen Beziehungen aus, der vollkommene Triumph der Dialektik des Habens über die Gemeinschaft des Seins.
Stunde für Stunde werden Tausende von Arbeitsplätzen vernichtet, doch dächte niemand im Traum daran, sich für mehr einzusetzen als für seine persönlichen Interessen. Jede Gruppe führt ihren eigenen Kampf, ohne sich an einem gemeinsamen Ziel auszurichten. Die Unzufriedenheiten addieren sich, ohne zusammenzuwirken. Dem System wird vorgeworfen, die Güter schlecht zu verteilen, dabei müßte der eigentliche Vorwurf doch lauten, daß es zu nichts mehr imstande ist außer zur Güterproduktion.
Das politische Leben beläuft sich seinerseits auf einen Rückzug ins Private, auf Trotz und Enthaltung. Im Zeichen der gesellschaftlichen Atomisierung, wenn jeder sich selbst der Nächste ist, haben die Massen jegliche Mobilisierungsfähigkeit verloren. Träge und schwammhaft, völlig ohne Energie, aber bereit, alles aufzusaugen, sind sie zu jenen „schweigenden Mehrheiten“ geworden, von denen Jean Baudrillard sprach, die nur im Schweigen Mehrheit sind.
Seinen größten Sieg hat das System erlangt, indem es die Gemüter überzeugt hat – nicht von seinen Qualitäten, sondern von seiner Schicksalhaftigkeit. Das System behauptet nicht, perfekt, es behauptet, alternativlos zu sein. Wem jedoch die Hoffnung auf eine bessere Welt geraubt wurde, dem bleibt nichts mehr zu tun.
So breitet sich allerorten die „Zivilisationsmüdigkeit“ aus, die schon Sigmund Freud beschrieben hat. Sie entsteht dadurch, daß die Menschen ungeheures Elend in einer Welt erleben, in der man ihnen wieder und wieder sagt, sie sollten glücklich sein. Tocqueville hat all dies bekanntlich vor über zweihundert Jahren vorausgesehen – ebenso Nietzsche, als er seinen „letzten Menschen“ schuf.
Das ist aber noch nicht das Schlimmste. Am schlimmsten ist, daß das System sich nicht mehr anfechten läßt, weniger weil es Anfechtung bestraft oder gar nicht erst zuläßt, sondern weil es sie absorbiert, verdaut und sich so dagegen immunisiert. Daran sind nicht allein die falschen Rebellen schuld.
Falsche Rebellen sind diejenigen, die vorgeben, die herrschenden Tabus anzugreifen, in Wahrheit aber nur offene Türen einrennen. Ihre vermeintlichen Verstöße sind so kalkuliert, daß sie ihnen die einträgliche Stellung des Hofnarren oder des Alibi-Oppositionellen sichern. (Wo die echten Tabus liegen, läßt sich übrigens in jeder Gesellschaft leicht feststellen: Das sind die, deren Infragestellung strafbewehrt ist.)
Die eigentliche Tragödie ist vielmehr, daß die echte Rebellion keinen Rückhalt, keinen historischen Akteur mehr hat, der ihr zum Ausbruch verhelfen könnte. Echte Rebellen gibt es sicherlich immer noch, aber sie führen ihr Leben als Einzelgänger oder in randständigen Milieus, die keinerlei Zugriff mehr auf die Welt haben. Das herrschende System verschlingt alles, ernährt sich von allem. Einst war ein „Picasso“ ein Gemälde, heute ist es ein Auto. Guy Debord wird in der Nationalbibliothek ausgestellt, die Plakate vom Mai 1968 dienen als Werbeposter, aus den Köpfen von Karl Marx, Che Guevara und James Dean hat man Logos gemacht. Die außerordentliche Vereinnahmungsfähigkeit des Systems wirft unmittelbar die Frage auf: Wer ist unvereinnahmbar? Das Geheimnis des historischen Subjekts bleibt intakt.
Es geht gewiß nicht darum, den „großen Erzählungen“ der Moderne nachzutrauern, deren Zeit längst vorbei ist. Indes drängt sich die Erkenntnis auf, daß das Sinndefizit – der Mangel an Bezugspunkten –, das unsere Zeitgenossen verwirrt wahrnehmen, zuvorderst Folge des Scheiterns sämtlicher kollektiver Projekte ist. Was fehlt, ist jener Bedeutungshorizont, wie ihn gemeinsame Werte schaffen, das klare Bewußtsein des Zusammenlebens in einer Schicksalsgemeinschaft. Die individuelle Existenz findet ihre Erfüllung erst, indem sie sich in einen gemeinsamen Bedeutungshorizont einfügt. Durch die Gegenseitigkeit der einzigartigen Individuen eröffnet sich der Raum des Gemeinsamen als Ort wechselseitiger Anerkennung. Das Wesen des Zusammenlebens ist nicht generisch, sondern geschichtsbedingt: Es bildet den Schauplatz, auf dem Geschichte stattfindet, den Ort der Gemeinschaftsbildung (koinonia).
Während Europa sich aus der Geschichte verabschiedet, erschüttern Turbulenzen und Unruhen den Rest der Welt und geben eine Ahnung von den bevorstehenden Erdbeben. Schockwellen ergreifen einen Kontinent nach dem anderen, die Bedrohungen häufen sich. Der Fälligkeitstermin unserer ökologischen Schulden rückt jeden Tag näher, das globale Finanzsystem läßt sich nur noch im Zustand der Schwerelosigkeit aufrechterhalten, die soziale Krise greift überall um sich, die demographischen Ungleichgewichte verschlimmern sich, eine neue geopolitische Weltordnung zeichnet sich ab.
„Das Ende der Hoffnung ist der Anfang des Todes“, sagte General de Gaulle. Die Hoffnung aufzugeben und der Verzweiflung anheimzufallen, wäre gewiß eine Dummheit, doch ist diese Gewißheit kaum ein Trost. Die Besinnung darauf, daß die Geschichte in ihrem Ausgang immer offen, weil noch ungeschehen ist, genügt nicht, um sich einzureden, daß am Ende schon alles gut wird. Zum einen ist die Geschichte nicht in jede beliebige Richtung offen, denn sie besteht aus Entwicklungen, deren weiterer Verlauf vorherbestimmt ist. Zum anderen kann das noch Ungeschehene durchaus schlimmer werden als das bereits Geschehene.
Unter diesen Bedingungen kommt es darauf an, die Vorzeichen zu erkennen und richtig zu deuten. Wenn die Geschichte ihr Antlitz wieder zeigt, dann immer in bislang ungekannten Formen. Nostalgiker, die von einer schlichten Rückkehr zur alten Ordnung träumen, sollten sich davon nicht täuschen lassen. Etwas Neues, nie Dagewesenes kommt auf uns zu. Wir wissen weder, wie es aussehen wird, noch werden wir es herbeiführen. Es wird von alleine geschehen. Die echte systemische Erschütterung wird im Innern des Systems erfolgen und sich doch dem Willen der Menschen entziehen, die sowieso niemals die Geschichte kennen, die sie machen. Die Geschichte ist nicht so sehr offen als vielmehr unvorhersehbar. Allem, was in der Geschichte viel Lärm verursacht hat, ging eine große Stille voraus. „Katastrophe“ bedeutet Kehrtwendung. Selbst in Epochen der seichten Gewässer kommt schließlich irgendwann die Flut.
Alain de Benoist, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschriften „Nouvelle École“ und „Krisis“. In der Edition JF ist von ihm gerade das Buch „Abschied vom Wachstum. Für eine Kultur des Maßhaltens“ erschienen (gebunden, 200 Seiten, 24,80 Euro)
Foto: Alain de Benoist: Die gegenwärtige Realität scheint alternativlos