Nun hat es den nächsten erwischt: Wie viele andere war wohl auch der Schriftsteller Dieter Wellershoff, Jahrgang 1925, Mitglied der NSDAP. Insgesamt waren es mindestens acht Millionen. Vielleicht auch mehr, denn es tauchen fast täglich neue Mitglieder auf. Die Karteikarte, auf der der Name von Wellershoff steht und die seine Mitgliedschaft dokumentiert, trägt die Nummer 10.172.531. Dieter Wellershoff kann sich nicht erinnern. Auch nicht, als der Journalist Malte Herwig bei ihm vorbeischaut und ihn ins Gebet nimmt.
Recherchen des Zeit-Magazins haben diesen Sachverhalt aufgedeckt, und dort beansprucht man nun, das Ergebnis auch genüßlich ausschlachten zu dürfen: „Wellershoff, der den Krieg erlebte und eindringlich beschrieb, ist Erinnerungsspezialist.“ Um so besser, wenn der sich dann nicht erinnern kann. So jedenfalls muß man sich die frohlockende Grundstimmung von Malte Herwig vorzustellen haben: „Er gibt nicht den trotzigen Dementierer. Er bohrt sich in das Damals hinein, hellwach. Man ist geneigt, ihm zu glauben.“ Man ist geneigt, schreibt Malte Herwig.
Und so wie dieser Satz hat diese ganze Szenerie etwas zutiefst Abstoßendes. Da kommt ein Mittdreißiger daher und hält dem über Achtzigjährigen sein Leben, vielmehr ein Detail aus seinem Leben, vor. Bei Wellershoff („Der Ernstfall“, 1985) kommt hinzu, daß er ein Lebenswerk vorzuweisen hat, über das sich inhaltlich reden ließe. Aber darum geht es nicht. Eine solche Geschichte würde die Zeit nicht drucken, das Detail macht den Unterschied.
Und es macht den Unterschied mittlerweile vieler Lebensgeschichten aus. Ob Siegfried Lenz oder Martin Walser, Walter Jens oder Peter Wapnewski, Dieter Hildebrandt oder Hermann Lübbe – es sind Männer, die die Debatten nach 1945, insbesondere seit den 1960er Jahren, maßgeblich bestimmt haben. Und deshalb stellt sich bei jedem dieser Fälle, besonders intensiv beim Waffen-SS-Mann Günter Grass, etwas Schadenfreude ein – frei nach dem Zauberlehrling: Die ich rief, die Geister / Werd‘ ich nun nicht los.
Im Spiegel dieser Woche hat Wellershoff Stellung zu den Vorwürfen beziehen dürfen und macht dabei keine gute Figur, weil er so tut, als ob es sich nur um einen „schlechten Scherz“ oder einen „grotesken Irrtum“ handeln könne. Er sieht in der ganzen Glaubwürdigkeitsdebatte durch „ihr Lebenswerk ausgewiesene Menschen“ am Pranger, „die es nicht nötig hätten, Irrtümer und ideologische Gläubigkeiten ihrer Jugend zu verleugnen“.
Wenn er hier für die ganze Generation von bundesrepublikanischen Vorzeigeintellektuellen spricht, dann irrt er. Daran, daß sich mit solchen Details Empörung entfachen läßt, daß sich solche Geschichten verkaufen, daß sich nach der Lektüre viele Leute besser fühlen, daran ist diese Generation nicht unschuldig: weil der „Nazi“ immer der andere, möglichst der Spießer und Kleinbürger war und weil die Moral zum imaginären Maßstab eines Werkes gemacht wurde.
Herwig ist nicht dumm und weiß, was er wiederum seiner Generation schuldig ist. Von den „Hohepriestern deutscher Vergangenheitsbewältigung“, die ja allen auf die Nerven gehen, setzt er sich verbal ab, weil diese nur in Dichotomien dächten. Er allerdings tut nur so, als ob er das nicht selber täte. Wenn Wellershoff hoffte, daß mit der Grass-Enthüllung die Nachkriegszeit zu Ende sei, so zeigt sich der Enkel Herwig erbarmungslos: „Doch es ist nichts zu Ende, auch nicht für Wellershoff. In den Trümmern der deutschen Geschichte schlummern immer noch Bomben.“ Was mag er damit meinen? Etwa die Karteikarten?
Die Frage, ob es in den letzten beiden Kriegsjahren kollektive, ungefragte Parteiaufnahmen gegeben hat, wird unterschiedlich behandelt. Die historische Forschung sagt eher nein, und Wellershoff bemüht sich im Spiegel, das Gegenteil zu suggerieren. Damit hat er sich auf das Niveau seines Anklägers begeben, obwohl er das nicht nötig hätte. Die jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Werk Gottfried Benns und dessen antikollektivem Pathos hätten etwas anderes erwarten lassen. Von Benn hätte es auf solche Anwürfe keine Antwort gegeben.
Aber Wellershoff war eben auch alarmistisch in die Ereignisse um ’68 engagiert, wenn er damals sagte: „Es kann Ihnen passieren, daß Sie in einer Demokratie einschlafen und in der Diktatur geweckt werden!“ Was heißen sollte: Es ist schon wieder soweit. Und auch wenn sich Wellershoff mit solchen Sätzen später kritisch auseinandergesetzt hat, bleibt doch sein Anspruch, besser zu sein als die anderen, die Spießer und Anpasser, die da einfach weitermachen. Den Dammbruch nahm er nicht wahr. Aber soll man ihm Sätze wie „Das wiedervereinigte Deutschland ist längst ein unträumbarer Traum geworden, den sich alle Einsichtigen verbieten“ (1979) übelnehmen und vorhalten?
Auf diesem Niveau bewegt sich Malte Herwig. Er hat es vermutlich nicht anders gelernt. Für ihn gab es „Ehrgeiz, Opportunismus, Anpassung“ nur im Dritten Reich. Er hat die totalitären Züge des „moralischen Anspruchs“ verinnerlicht: Nicht ein Werk entscheidet, ob der Daumen oben bleibt, sondern die möglicherweise dahinterliegende Ideologie. Wie selbstentlarvend diese Vorgehensweise ist, fällt Herwig nicht mehr auf. Sonst müßte er sich die Frage stellen, wie Bücher in den deutschen Diktaturen bewertet wurden: Ob einer gut schreiben konnte, war egal. Hauptsache, er war früher nicht in der falschen Partei und hing jetzt der richtigen Ideologie an. Der Mühe, ein Werk zu beurteilen, muß man sich dann nicht mehr unterziehen.
Der andere Weg ist schwieriger. Er stellt vor allem Forderungen an die eigene Toleranz, womit keine Gleichgültigkeit gemeint ist. Ein Werk zu akzeptieren, es für gut zu befinden, obwohl die Person unsympathisch ist und andere Einstellungen hat, gehört zu den Grundtugenden des gebildeten Menschen. Man akzeptiert damit, daß ein guter Mensch literarisch Minderwertiges schreiben und ein schlechter Mensch ein Werk hinstellen kann, das ihm einen Platz in der Literaturgeschichte sichert. Darüber befindet kein Detail der Biographie. Der „neudemokratische Dummstolz“ (Hermann Lübbe) behauptet das Gegenteil, weil er meint, den einzig richtigen Maßstab zu besitzen.
Foto: Dieter Wellershoff (r.) und Günter Grass im September 1964 bei einer Jahrestagung der „Gruppe 47“ in Schweden: Daran, daß sich mit Karteikarten der NSDAP Empörung entfachen läßt, daß sich solche Geschichten verkaufen, daran ist diese Generation nicht unschuldig