Im Rundfunk hörte ich von den Streikversammlungen auf den Ostberliner Baustellen und in den Betrieben am 16. Juni 1953. Am 17. Juni wurde ich früh aus dem Bett geklingelt. Ein Schulfreund, Fred Pieper, weckte mich. In Rathenow formierte sich bei den Bauarbeitern eine Kampfdemonstration. Wir stiegen auf die Fahrräder und hatten sehr bald die Gruppen von Demonstranten erreicht, die sich zögernd auf die Straßen wagten.
Von Polizei war nichts zu sehen. An der Spitze der Demonstration zockelte ein Trecker. Er trug noch die Sprüche vom 1. Mai. „Nie wieder SS-Europa“, war als Hauptspruch zu entziffern. Neben dem Fahrer stand ein Soldat der Kasernierten Volkspolizei. Er war zu den Streikenden bereits übergelaufen. Er ballte die Faust, so als gehörte er zu den „roten Matrosen“ aus Kronstadt. Überhaupt erinnerte alles an die russischen Revolutionsfilme, die uns den Panzerkreuzer Potemkin von 1905 oder den Sturm auf das Winterpalais von 1917 nahegebracht hatten.
Der Trecker bog auf den Betriebshof des Volkseigenen Betriebes der Rathenower Optischen Werke (ROW). Die Pförtnerloge war leer. Der Betriebsschutz hatte sich verdrückt. Die Streikenden riefen vereinzelte Sprüche: „Akkord ist Mord“, „Runter mit den Normen“, „SED, raus aus den Betrieben“, „Weg mit dem Spitzbart“ (gemeint war SED-Chef Walter Ulbricht), „Solidarität“. Zögernd verließen Arbeiter und Angestellte die Gebäude und schlossen sich den Streikenden an. Vor dem großen HO-Geschäft machte der Zug halt.
„SED, raus aus den Betrieben, weg mit dem Spitzbart!“
Ein riesiger Platz bot Raum für Tausende. Die Polizei war aus dem Straßenbild verschwunden. Bei dem Kreisamt des Ministeriums für Staatssicherheit hatten wir beobachtet, wie die zivilen Geheimpolizisten über die Gärten geflohen waren. Der Repressionsstaat war vor der Macht der Arbeiterklasse zurückgewichen.
Der Trecker diente als Rednerpult. Ein Vertreter der Kreisleitung der FDJ, Hans Mrositzky, kletterte auf das Gefährt. Er rief die Arbeiter auf, nicht gegen die eigene Regierung zu streiken. Sie sollten Vertrauen haben und zur Arbeit zurückkehren. Der „neue Kurs“ werde die überhöhten Normen revidieren. Er wurde ausgepfiffen und vom Trecker gezerrt.
Die folgenden Redner hatten Schwierigkeiten, sich zu artikulieren. Die Angst verschluckte die Worte. Sich öffentlich zu zeigen und gegen den Staat anzureden, barg viele Risiken. Zögernd betrat ein älterer Arbeiter das Dach der „Lokomotive“. Er wurde von hinten geschoben. Er sprach ruhig und gesetzt. Er redete von einem „politischen Streik“ gegen die SED und gegen die Regierung. Die Arbeitshetze in den Betrieben sollte ein Ende finden. Die Normen müßten gesenkt werden. Sie folgten einer willkürlich von oben festgelegten Arbeitsleistung und ähnelten den Akkordlöhnen aus vergangenen Zeiten. >>
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Andere ältere Arbeiter folgten diesem Redner. Ihre Forderungen liefen darauf hinaus, Streikräte in den einzelnen Betrieben zu bilden. Die SED sollte als Kontrollorgan aus den Betrieben entfernt werden. Andere verlangten einen zentralen Streikrat der Stadt, der sich mit den Streikenden des Kunstseidenwerks in Premnitz, der Nachbarstadt von Rathenow, verständigen sollte. Die Rathenower Arbeiterschaft klagte ihre politische Selbständigkeit ein und pochte auf Teilhabe an der Mitbestimmung in Betrieb und Kommune.
Erste Schritte wurden angesprochen, zuerst betriebliche Streikräte zu wählen, ehe an einen zentralen Streikrat gedacht werden konnte. Zum Schluß der Kundgebung wurde das alte Arbeiterlied „Brüder zur Sonne zur Freiheit, Brüder zum Lichte empor“ gesungen. Wir stimmten freudig mit ein, denn dieser Gesang gehörte zu unserem Repertoire aus der FDJ. Dieses alte Arbeiterlied wurde zur Hymne des Streiks.
Lastwagen waren zu hören. Russische Soldaten mit Kalaschnikow kamen zögernd auf die Streikenden zu. Sie wurden mit „Druschba“-Rufen begrüßt. Wir drehten weitere Runden mit unseren Fahrrädern. Vor dem Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft gab es einen Auflauf wütender Bürger. Ein älterer Mann, er mochte etwa 60 Jahre alt gewesen sein, sollte an einem Blitzableiter erhängt werden. Er schrie und wehrte sich. Er blutete am Schädel. Ein Auge schien aus der Kopfhöhle zu hängen. Ich konnte mich mit meinem Fahrrad nicht durchdrängen.
Ein stadtbekannter Spitzel
Das sah nach Wilhelm Hagedorn aus. Ich kannte ihn, weil er in der Nachbarschaft wohnte. Außerdem hatte er sich wiederholt an meine Mutter heranmachen wollen. Ich mochte ihn nicht. Er war als Spitzel stadtbekannt. In der Gaststätte „Wernecke“ in der Kurlandstraße hatte er geprahlt, daß er nach 1945 etwa 300 Faschisten und Konterrevolutionäre an den sowjetischen NKWD ausgeliefert hätte.
Im RIAS wurde sein Namen als „Spitzel“ durchgegeben und vor ihm gewarnt. Meine Mutter hatte mir erzählt, daß er in den zwanziger Jahren zur KPD und zum Rotfrontkämpferbund gehört hatte. Nach 1933 hatten die Nationalsozialisten ihn kurzfristig in ein KZ gesperrt. Danach hatte er als Hilfsarbeiter am Rathenower Hafen gearbeitet.
Die Aufmärsche der SA hatte er in dieser Zeit beobachtet und sich die Namen der Führer gemerkt. Nach 1945 nahm er Rache und wurde zum gefürchteten Mann der Stadt. Er verriet jedoch nicht nur die NS-Größen des Ortes an den Sowjetgeheimdienst. Er denunzierte Unternehmer oder die, die er für die „feindliche Klasse“ hielt. Jugendliche wurden als „Wehrwolf“ verdächtigt und verraten, egal ob der Verdacht beweisbar war. Sozialdemokraten und Kommunisten, die bei der Vereinigung 1946 nicht mitgemacht hatten oder die aus der SED herausgesäubert wurden, waren vor ihm nicht sicher. >>
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Er mochte sich für Augenblicke als der „König“ und „Despot“ einer Stadt fühlen, der für seine Lebenspein und seine Erniedrigungen Rache nehmen konnte. Mit Drohgebärden konnte er jeden einschüchtern und in Angst und Schrecken versetzen. Der russische Okkupationsapparat transportierte die Verratenen in die Konzentrationslager Sachsenhausen oder in die Gefängnisse des Bezirks. Viele von ihnen wurden durch Schnellgerichte zu langen Haftstrafen verurteilt und nach Workuta und in andere Arbeitslager in Sibirien verschickt. Nur wenige von ihnen würden zurückkehren.
Jetzt, es mochte gegen 13 Uhr sein, riß er sich los und rannte in die Mittelstraße hinein. Einige Männer halfen ihm, Zuflucht in der Molkerei zu finden. Ein Krankenwagen wollte den Schwerverletzten bergen und ins Krankenhaus transportieren. Das Auto wurde von der Menge gestürmt und der Spitzel herausgezerrt. Ich umklammerte mein Fahrrad und beobachtete aus etwa dreißig Meter Entfernung das Geschehen.
Hagedorn wurde in die Berliner Straße, sie trug damals noch den Namen Stalins, in Richtung Havelschleuse gehetzt. Er fiel hin, raffte sich auf, wurde getreten, sprang erneut auf, rannte und kämpfte um sein Leben. Die Menge war unerbittlich. Der Spitzel sollte sterben. Die Verfolger bildeten eine Meute. Sie schlugen auf ihn ein. Haß und Wut vereinigte sie. Mordlust kam auf. Am Hafen, wo er vor 1945 gearbeitet hatte, wurde er gezwungen, ins Wasser zu springen. In einem Boot warteten fünf junge Männer auf ihn. Sie wollten ihn ertränken. Am anderen Ufer, an einem Zugang zur Altstadt, war Volkspolizei zu sehen.
Haß und Wut vereinigte sie, auch Mordlust kam auf
Hagedorn ging unter, stieß nach oben, japste nach Luft und machte Schwimmbewegungen, um das rettende Ufer zu erreichen. Er hielt sich am Boot fest. Die jungen Männer schlugen mit dem Paddel auf seine Finger. Hagedorn ließ los. Sein Kopf versank. Zwei Meter entfernt stieß er wieder nach oben. Er schrie. Mir war bewußt, daß hier ein Spitzel zu Tode gehetzt wurde. Die Rache bildete eine anonyme Kraft und vereinigte die vielen Demonstranten, die in Hagedorn so etwas sahen wie ein Symbol und den Repräsentanten der Besatzungsdiktatur.
Plötzlich sprang mein Schul- und FDJ-Freund Horst Musold, Arbeiterkind wie ich, ins Hafenbecken. Zwei andere Jugendliche folgten ihm. Mit schnellen Schwimmstößen erreichten sie den Ertrinkenden. Musold nahm den Kopf von Hagedorn und drückte ihn unter Wasser. Der tauchte wieder auf, spuckte. Seine Schreie erstarben in gurgelnden Geräuschen.
Er verschwand erneut unter Wasser. Am Hafenbecken johlte die Menge. Hunderte sahen den Qualen dieses Mannes zu. Kurz vor dem endgültigen Abtauchen konnte ihn ein Polizist am Schopf ergreifen. Er wurde in ein Polizeiauto gezerrt. Im Krankenhaus weigerten sich Krankenschwester und Ärzte über längere Zeit, den Todgeweihten zu behandeln. Nach zwei Stunden starb er an den schweren Verletzungen von Körper und vor allem Kopf. >>
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Stunden später fuhren russische Soldaten durch die Stadt. Ein Ausnahmezustand war verhängt worden. Über die Schulleitung wurden wir unterrichtet, daß in Potsdam fünf Täter aus dem „faschistischen Mob“ vor dem Bezirksgericht standen. Zwei von ihnen wurden zum Tode verurteilt. Drei der Jugendlichen erhielten Zuchthausstrafen, weil sie noch nicht das 18. Lebensjahr erreicht hatten. Ich war entsetzt. Eine Rachejustiz wurde eingesetzt, um den Tod Hagedorns zu sühnen.
Eine Woche später revidierte das Politbüro der SED das Urteil. Die Todeskandidaten erhielten eine lebenslange Haftstrafe. Bei den anderen wurde die Haftzeit herabgesetzt. Musold, der gerade das fünfzehnte Lebensjahr erreicht hatte, mußte sich in einem Jugendwerkhof für mehrere Jahre bewähren. Aus ihm sollte ein anderer Mensch geformt werden.
In der Schule wurde weder über Hagedorn noch über Musold gesprochen, auch von den Lehrern nicht. Irgendwann ging ich zu seiner Großmutter, bei der er mit seinem jüngeren Bruder gelebt hatte, um zu erfragen, wo er zu erreichen sei. Die Tür wurde nicht geöffnet. Der Bruder verweigerte später auf der Straße jede Auskunft. Meine Mutter verbot mir, mit anderen über den Schulfreund zu sprechen; es sei zu gefährlich.
War Hagedorn ein Spitzel in beiden Diktaturen?
Eine Woche danach prangte ein großes Transparent von Hagedorn an der Frontseite des Kaufhauses. Der Text feierte einen „mutigen Antifaschisten“, der von einem faschistischen Mob gequält und erschlagen worden war. Werktätige aus dem Bezirk kamen angereist, um an der Trauerfeier für Hagedorn teilzunehmen. Der Bürgermeister aus Ost-Berlin, Friedrich Ebert, hielt die Grabesrede.
Der ehemalige Sozialdemokrat und Sohn des ersten Reichspräsidenten sollte vor den Rathenower Arbeitern sprechen, die in ihrer Mehrheit aus der alten Sozialdemokratie stammten. Ein Blasorchester der Volkspolizei aus Potsdam intonierte den revolutionären Trauermarsch der Bolschewiki: „Unsterbliche Opfer, ihr sankt dahin“.
Hagedorn wurde am Eingang des Friedhofs der „Freidenker“ beigesetzt. Aus Rathenow hatten sich nur wenige „Werktätige“ dem Trauerzug angeschlossen. Nachts wurde wiederholt sein Grabstein umgestoßen. Eine Straße oder ein Platz sollte nach ihm benannt werden. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) weigerte sich, Hagedorn diese Ehre zu gewähren. Das mochte daran liegen, daß die SED diesen „politischen Streik“ gegen ihre Macht nicht aufbauschen wollte und an Märtyrern nicht interessiert war.
Bald behaupteten Gerüchte, daß dieser Spitzel ab 1935 für die Geheime Staatspolizei der NS-Diktatur gearbeitet hatte. Er soll der Gestapo Hunderte Kommunisten und Sozialdemokraten ausgeliefert haben. Die antifaschistischen Feierlichkeiten verstummten. Der Spitzel verfiel der Unendlichkeit des Schweigens.
Prof. Dr. Bernd Rabehl, 1938 in Rathenow geboren, gehörte 1967/68 dem Bundesvorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) an und war einer der engsten Weggefährten von Rudi Dutschke.
JF 26/09