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Filmtabu oder: Vom Gehenlassen der Vergangenheit

Filmtabu oder: Vom Gehenlassen der Vergangenheit

Filmtabu oder: Vom Gehenlassen der Vergangenheit

 

Filmtabu oder: Vom Gehenlassen der Vergangenheit

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Einen Films wegen einer einzigen Szene anzusehen – schon das leuchtet nur wenigen ein. Aber ausschließlich wegen des Vorspanns? Wegen der darin enthaltenen Warnung an eine bestimmte Bevölkerungsgruppe? Ja, sollte man. Und zwar Baz Luhrmans letzten Film „Australia” (2008), der jetzt auf DVD erschienen ist. Bevor diese filmische Katastrophe ihren zweieinhalbstündigen Lauf nimmt, warnt vorab ein Text: Die Aborigines und Bewohner von Torres sollten beim Betrachten dieses Films Vorsicht walten lassen, da er Bilder und Stimmen von Verstorbenen enthalte. Was wohl heißen soll: Von Verstorbenen ihrer Stämme.

Wieso die Warnung vor dem, was der versteckte Sinn eines jeden Film ist? Wurde dieses Medium denn nicht entwickelt, um die Erinnerung an die Toten zu bewahren? Der Tod sei durch den Film ein gutes Stück zurückgedrängt worden, hieß es bereits 1895. In jenem Jahr, als die Gebrüder Lumière den Zelluloid-Streifen erfanden. In der Tat: Nichts hält Aussehen, Bewegung und Stimme eines Verstorbenen so genau fest, nichts konserviert den Eindruck einer Persönlichkeiten so exakt wie ein Film. Ein Gang durchs Filmarchiv ist wie ein Ausflug ins Jenseits. Überall Personen, festgehalten auf Zelluloid, die als Projektion Auferstehung feiern. Die Unsterblichkeit in einer säkularisierten Welt. Weshalb also warnen davor?

Niemand darf mehr den Namen des Toten nennen

Jeder kennt den Glauben, daß der Akt des Fotografierens die Seele raubt. Und wirklich, wer das Foto eines Menschen besitzt, hat zugleich Macht über ihn. Indem er es beliebig oft betrachten, es veröffentlichen und in neue Kontexte stellen kann. Da braucht eine magische Erklärung gar nicht erst bemüht zu werden.

Aber im Falle der Aborigines geht die Spur womöglich in eine andere Richtung. Im Seelenglauben der australischen Ureinwohner spielt das Gehenlassen, das Nicht-Festhalten des Verstorbenen eine große Rolle. Mehr noch: Die Seele muß verjagt werden. Niemand darf mehr den Namen des Toten nennen. Der könnte sich angesprochen fühlen und zurückkehren. Ähnlich vermied man in Europa, den Namen des Teufels auszusprechen. Aus Angst, er könnte das als Anruf verstehen. Dieses Gehenlassen ist nicht allein zum Wohle des Verstorbenen, auch die Lebenden wollen sich mit seiner Wiederkehr nicht belasten.

Gegen diese Auffassung prallt der säkulare Wunsch des (irdischen) Festhaltens, dessen vollkommenster Ausdruck der Film ist. Diese Bedeutung spürt jeder, der eine andere Person vergessen will. Dann wird er deren filmisches oder fotografisches Abbild als erstes entsorgen. Eben weil ihr Eindruck darin lebendiger erhalten ist, als zum Beispiel in einer Handschrift.

Fraglicher Nutzen der Historie

Für eine Kultur, zu deren Selbstverständnis die Geschichtlichkeit gehört, ist der Film von unschätzbaren Wert. Durch ihn bleiben historische Personen und Ereignisse „lebendig”. Aber spätestens seit Nietzsche und Joyce ist der Nutzen von Historie in Frage gestellt. „Die Geschichte ist ein Albtraum, aus dem ich zu erwachen versuche”, sagt Stephen Dedalus im „Ulysses” (1914).

Oft genug wurde geschichtliches Bewußtsein als Zeichen kultureller Entwicklung gedeutet. Aber womöglich sind nicht-historische Kulturen kein Ausdruck von Tiefstand, sondern das Ergebnis einer aktiven Leistung! Durch die Tabuisierung der Toten beispielsweise, wird geschichtliche Existenz sabotiert, unmöglich gemacht. Die Vergangenheit darf gehen, sich aufheben in einer endlosen „Traumzeit”. Beides, geschichtliche wie ungeschichtliche Kultur bedürfen ständiger Anstrengung zu ihrer Erhaltung. Im ersten Fall Erinnerungsarbeit, im zweiten Fall „Vergessensarbeit“.

Freilich ist auch solche Unterteilung relativ. Bei den ahistorischen Kulturen wird das Bedürfnis nach Verwurzelung im Vergangenen durch Mythen bedient, und in der Geschichtskultur erlauben sich deren Mitglieder das Vergessen durch Nichtbeachtung historischer Dokumente. Berliner Schauspielstudenten, die vor einigen Jahren auf Orson Welles und Klaus Kinski angesprochen wurden, kannten diese schon nicht mehr. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis beide endgültig gehen dürfen.

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