Der Zusammensturz eines eher unscheinbaren Kölner Gebäudes hat weltweit nachrichtliche Beachtung gefunden. Warum dies? Das mehrstöckige moderne Funktionsbauwerk barg archivalische Originale aus einem Jahrtausend europäisch-deutscher Geschichte; nach derzeitiger Sachlage wird ein Totalverlust gerade ältester Stücke der Sammlung zu beklagen sein. Die interessierte Mitwelt erhielt Kenntnis von einem Vorgang, der bezüglich Quantität und Qualität des vom Untergang Bedrohten für Friedenszeiten einmalig sein dürfte.
Mit dem historischen Archiv der Stadt Köln – im Mittelalter die Lehrstätte der Dominikaner-Theologen Albertus Magnus und seines Schülers Thomas von Aquin – versank in einer dreißig Meter tiefen Schlammgrube die bedeutsamste kommunale Sammlung nördlich der Alpen, höchst belangreich zumal, was die Anfänge der „deutschen“ Geschichte im frühen Mittelalter betrifft: mehr als tausend Jahre kölnische, rheinische, deutsche, mitteleuropäische und christliche Geschichte, in fünfundsechzigtausend Dokumenten belegbar, deren ältestes aus dem Jahr 922 stammt.
Hundertviertausend Karten und Stadt- bzw. Flurpläne, fünfzigtausend Plakate, eine halbe Million fotografischer Aufnahmen, siebenhundertachtzig Nachlässe und private Sammlungen, mittelalterliche Handschriften, die Ratsprotokolle aus sieben Jahrhunderten, Siegel und Privilegien deutscher Könige und Kaiser, päpstliche Bullen, Schriftwechsel zwischen Rom und katholischen Würdenträgern im Deutschen Reich, die reformatorischen Vorgänge am Rhein, die Franzosenzeit, die preußische Rheinprovinz, die Industrialisierung im 19. Jahrhundert, ein lückenloses Archiv rheinischer Presseerzeugnisse: Die Auflistung der Bestände könnte trübsinnig machen, gäbe es nicht die begründete Hoffnung, große Teile des in Generationen Gehorteten aus den Schuttbergen unserer Tage und, schlimmer noch, den Schlammfluten des steigenden Grundwassers bergen zu können.
Abendländisches Denken liebt die Frage nach dem Grund von Folgen, der Ursache solch unliebsamer Wirkungen; im hier in Rede stehenden Falle haben wir es mit katastrophalen Auswirkungen des Untergrundbahnbaus zu tun. Das U-Bahn-Netz der Stadt soll ausgebaut werden, es geht um vier Kilometer in Nord-Süd-Richtung, die bereits in den 1980er Jahren projektiert und geplant worden waren. 2004 begannen die Bauarbeiten, die bis Mitte 2010 fertiggestellt werden sollten. Der Verlauf reicht vom Breslauer Platz unmittelbar hinter dem Dom und dem ihm unmittelbar benachbartem Hauptbahnhof, verläuft parallel zum Rhein und bindet damit den historischen Innenstadtbereich an das übrige U-Bahnnetz. Die Tunnelröhren laufen etwa dreißig Meter tief unter der historischen Altstadt, deren Bebauung in die Zeit des römischen Legionslagers zurückreicht. Immer wieder informierten betroffene Anlieger die zuständigen Stellen und den Bauherrn über Risse an ihren Häusern, selbst das Stadtarchiv suchte diesbezüglich Rat und Hilfe – erfolglos, wie man weiß.
Kulturelle Verlustkatastrophen größten Ausmaßes haben sich im Laufe der Geschichte immer wieder ereignet: die Verheerungen bzw. Großbrände Alexandrias, Roms, Konstantinopels, Londons, Dresdens, Berlins, neuerdings Bagdads; im größeren Rahmen wären wohl die (imperialistischen) Landnahmen in Afrika wie auch Nord- und Südamerika dazu zu zählen; auch für Tibet und die christlichen Kulturen des südlichen Mittelmeerufers bzw. des Vorderen Orient mag dies gelten.
Der Kölner Untergang ist insofern singulär, als er sich im Rahmen ziviler Bauarbeiten ereignet hat und bei etwas mehr Sorgfalt und weniger Schlamperei leicht vermeidbar gewesen wäre. Immerhin sind die wertvollsten Urkunden der Kölner Sammlung auf achthundert Rollen mikrofilmisch dokumentiert und im Zentraldepot der zuständigen Bundesbehörde in Metallbehältern eingelagert; diese Art der Sicherung des kulturellen Kernbestands der Deutschen rührt aus den Zeiten des Kalten Kriegs her, als die Furcht herrschte, es könne zu einer atomar geführten Blockkonfrontation kommen.
Die Kölner Verluste betreffen auch die Region: Das älteste erhaltene Bonner Ratsprotokoll von 1689 lagert ebenso im Kölner Stadtarchiv wie das Taufbuch von Sankt Remigius, als dessen berühmtester Täufling Ludwig van Beethoven eingetragen ist, doch bedeutend wertvolleres Material aus Bonn dürfte in Köln verlorengegangen sein. Stadtarchivar Norbert Schloßmacher weilte noch vor wenigen Wochen bei den Kölner Kollegen zu einem Experten-Kolloquium, bei dem es um die Zukunft des dortigen historischen Archivs und um Probleme ging, „die bei uns parallel waren, so etwa Gebäudeschäden, Platznot, Klimaveränderungen, das alles stellt uns vor neue Herausforderungen. Die größte bedeutendste Stadt des abendländischen Mittelalters hat ihr Gedächtnis verloren, und das trifft auch Bonn. Wir haben keine eigenen Quellen aus dem Mittelalter und müssen oft auf Kölner Unterlagen zurückgreifen.“
Gleichviel, ob man den Schaden in Köln auf 60 oder 400 Millionen Euro veranschlage, so Schloßmacher, „mit Geld bekommt man zerstörte Originale nicht zurück“.